Der Ruf des Abendvogels Roman
Entlassung von Personal sei meine Angelegenheit. Ich habe Nugget in meinem Cottage beim Stehlen ertappt – was hätte ich deiner Meinung nach tun sollen? Es auch noch gutheißen?«
Victoria holte tief Atem. »Nugget ist so loyal wie sonst kaum einer. Er würde uns nie bestehlen. Ich bin sicher, dass du dich geirrt haben musst.«
»Ich denke, ich merke schon, wenn jemand mich bestiehlt. Er hatte keinen Grund, in mein Cottage zu gehen – absolut keinen.«
»Hast du ihn gefragt, was er dort wollte?«
»Er hielt eine Flasche Wein in der Hand, die Ferris mir geschenkt hatte, und etwas Kleingeld, also würde ich sagen, die Tatsachen sprachen für sich selbst.«
»Gibt es irgendwelche Zeugen?«
»Wenn du damit die anderen Männer meinst, sie werden natürlich Nugget unterstützen, das weißt du. Wahrscheinlich wollte er den Wein mit ihnen teilen.« Tadd überlegte einen Moment, ob er sagen sollte, dass sein Wort ihr eigentlich genügen müsse, doch er wollte es nicht zu weit treiben.
Victoria war fest davon überzeugt, dass Nugget niemals etwas gestohlen hätte. Außerdem war ihr inzwischen bewusst geworden, dass Tadd in letzter Zeit nicht mehr verlässlich war. Mit fest aufeinander gepressten Lippen, um nichts zu sagen, was sie hinterher bedauern würde, wandte sie sich um und ging zum Haus zurück.
»Stimmt es wirklich, Tante Victoria? Hat er Nugget entlassen?«, fragte Tara, als sie hereinkam.
»Ja«, stieß Victoria ärgerlich hervor.
»Und weswegen, um Himmels willen?«
»Er behauptet, Nugget in seinem Cottage beim Stehlen erwischt zu haben. Aber ich glaube auch nicht eine Minute daran, egal was Tadd sagt.«
»Dann stell Nugget wieder ein – schließlich hast du hier das letzte Wort.«
»Das tue ich auch, Tara – später.« Victoria wusste, dass Nugget nicht weit fortgehen würde, dazu war Tambora zu lange seine Heimat gewesen. Nach den Begriffen der Aborigines war er auch nicht weit von hier geboren – im Herzen der Simpson-Wüste. Er hatte auf Farmen gearbeitet, seit er die Missionsstation verlassen hatte, also einen großen Teil seiner Jugend und seines Lebens als Erwachsener dort verbracht, und er hatte mehr als einmal erklärt, dass er mit Geist und Herz an Tambora hing.
Besorgt ging Victoria in den Raum hinüber, in dem das Funkgerät stand. Ihre Gedanken überschlugen sich. Zuerst waren die Scherer nicht aufgetaucht, und dann hatte Tadd Nugget entlassen. Irgendetwas ging hier vor, und sie war fest entschlossen herauszufinden, was es war.
Auf der Schwelle des Raumes blieb Victoria abrupt stehen. Elsa saß am Funkgerät, einen kummervollen Ausdruck im Gesicht und die Augen feucht von Tränen. Das Gerät war auf Empfang geschaltet, und sie konnte die Unterhaltung zwischen den Frauen auf den umliegenden Farmen mitverfolgen.
»Oh Elsa, hör doch einfach nicht hin!«, meinte Victoria.
Elsa hob eine Hand, um ihr zu bedeuten, sie solle schweigen.
»Stellt euch bloß vor, Victorias Nichte eine Zigeunerin ...«
»Das ist dreckiges Diebesgesindel. Wir haben sie in England ständig von unserem Land vertrieben ...«
»Ich habe gehört, diese Nichte soll nackt für die Männer getanzt haben – gegen Bezahlung ...«
»Und wer weiß, was sie sonst noch alles für Geld getan hat!«
Die Frauen lachten anzüglich. Sie hatten ihre Männer sagen hören, Tara sei eine Schönheit, und deshalb genossen sie ihre kleinen Bosheiten umso mehr.
Tara sah Victoria in der offenen Tür des Funkraums stehen und fragte sich, was sie dort tat. Sie trat hinter sie und schaute ihr über die Schulter. Erschrocken sah sie ihre Mutter völlig aufgelöst neben dem Funkgerät sitzen. Doch Elsa brach nicht etwa zusammen, wie Victoria befürchtet hatte. Es schien, als sei sie von unbändiger Wut erfüllt, die sich bald in einem furchtbaren Ausbruch Bahn brechen würde.
Tara war entsetzt. Es traf sie nicht, dass die Frauen schlimme Dinge über sie sagten. Aber der Schmerz in den Augen ihrer Mutter tat ihr weh, weil sie wusste, dass sie der Grund dafür war. Elsa schien sich der Anwesenheit ihrer Schwägerin und ihrer Tochter kaum bewusst zu sein. Sie hatte nur Ohren für das bösartige Geschwätz der Frauen. Es rief ihr schmerzhaft in Erinnerung, warum sie ihr Leben lang ihre wahre Identität geheim gehalten hatte. Ihre schlimmsten Befürchtungen waren Wirklichkeit geworden.
Wenn die Frauen über sie gesprochen hätten, wäre Elsa vielleicht einfach weggegangen und hätte so getan, als wäre es nie geschehen. Doch diese
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