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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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zu ihm sagte. So sehr war er damit beschäftigt, meinen abgekämpften Zustand zu bedauern. Ich sah müde aus, gehetzt, nervös und zu allem entschlossen. Und keine Spur von Angst. Das hatte auch ihn schlagartig beruhigt. In meinen Augen hatte er sich selbst wiedergefunden.
    Nur so viel war ihm klar: Er musste mit mir sofort von dem Platz verschwinden, ehe Don Antonio ihn und mich sah. Falls er uns nicht schon gesehen hatte. Die Kirche schien Damián der geeignete Rückzugsort. Antonio war wie alle in der Gegend als Kind in der Schule katholisch gedrillt worden. Es gab kaum eine katholischere Stadt in Kolumbien als Popayán, und Antonio hatte einst zu den jungen Kerlen gehört, die bei den Prozessionen die tonnenschweren Heiligenbilder durch die Straßen trugen und mit ihren dicken Schultermuskeln prahlten. Auch wenn Antonio inzwischen das Katholische verfluchte, die Gottesfurcht der Kindheit ließ sich nicht so leicht abschütteln. Er würde nicht schießen in einer Kirche.
    Zudem würde er, Damián, in der Kirche seinem atemberaubend dringenden Wunsch, mich in die Arme zu ziehen, nicht nachgeben können. Zu meinem doppelten Schutz also schleppte er mich in die Kathedrale unter die Augen der Muttergottes und zahlreicher Heiliger.
    Er hatte mehrere vergebliche Anläufe unternommen, einen klaren Gedanken zu fassen. Während ich meine Geschichte vom Überfall und meine Notlüge hervorsprudelte, ich sei mit ihm, Damián, am Uhrenturm verabredet, drängte sich in seinem Kopf immer wieder die eine Frage in den Vordergrund: Warum hast du die Reise unternommen? Meinetwegen? Hast du mich wiedersehen wollen?
    Aber er wagte es nicht zu fragen. Als ich meinen Besuch bei seiner Großmutter Juanita erwähnte, über den er bestens unterrichtet war, und ihn dann ausführlich über Claras Krankheit befragte, hatte er für einen irrwitzig beglückenden Moment wirklich geglaubt, ich hätte von Anfang an geplant, nach Popayán zu gelangen, und nicht nur Don Antonio mit einer Notlüge dazu gebracht, uns hierherzutransportieren, sondern auch meinen Vater zu der Reise bewegt mit der Behauptung, er müsse sich unbedingt um Damiáns kranke Schwester kümmern.
    Ganz schön mutig, fand er. Und keinen Moment hatte ich, soweit er das beurteilen konnte, den Kopf verloren. Ich hatte mich nicht von Angst überwältigen lassen und, sobald es möglich war, die richtigen Leute um Hilfe gebeten. Dass eine wie ich sich überhaupt gemerkt hatte, was er über den CRIC, den Indianerrat des Cauca, erzählt hatte, das hatte er nicht erwartet, und es erfüllte ihn mit einer gewissen stolzen Befriedigung. Ich hatte schnurstracks seine Freunde aufgesucht. So viel Umsicht und Vertrautheit mit den Gegebenheiten seines Landes hatte er mir nicht zugetraut. Er hatte sich in ein Paar blauer Augen und in ein unschuldiges Gesicht verliebt, aber nun empfand er Hochachtung und Bewunderung. Ich war doch gar nicht so verkehrt, ihm gar nicht so fern. Ich hatte was kapiert von seinem Leben. Zum ersten Mal fühlte er sich mir nahe, ja fast vertraut. Umso mehr quälte es ihn, dass er mir nicht die Wahrheit über sich sagen durfte.
    Erst auf der Treppe vor dem Portal der Kathedrale war ihm die Uhr eingefallen, die ihn auf meine Spur geführt hatte und die er immer noch am Handgelenk trug. Fast bedauerte er, sie abnehmen zu müssen, denn sie hatte sich gut angefühlt an seinem Arm, warm, weich und vertraut, ein Stück von mir, das Einzige, was er jemals besitzen würde und nun schon wieder hergeben musste, zum zweiten Mal. Und wieder schaute er mir in die Augen, wie damals in der Grünanlage von El Rubí . Hier, vor der schneeweißen Kathedrale, gab es kein Verbot der Hausverwaltung, weiße Mädchen zu belästigen, hier durfte er einen Augenblick lang Mann sein, mich unterm Kinn fassen und mich zwingen, seinem Blick standzuhalten und einen Moment stillzuhalten, mich ihm zu ergeben.
    Immerhin hatte ich gerade eben frech und stolz von ihm verlangt, dass ich ihm das Geld zurückgeben durfte, das er dem Guerillero für meine Uhr bezahlt hatte. Auch jetzt noch spürte er mein zappeliges Aufbegehren und musste innerlich lächeln. So zuckte ein Mädchen zurück, das noch von keinem Mann, der es begehrte, angerührt worden war.
    »Keine Angst«, hatte er mich deshalb zu beruhigen versucht und erklärt, dass er noch nie Augen gesehen habe, die so blau waren. Und da war ich weich und nachgiebig in seiner Hand geworden und hatte ihn vertrauensvoll angeschaut.
    Danach hatte er sich sofort

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