Der Ruf des Kuckucks: Roman (German Edition)
aufgetaucht wäre. Entweder ließ sie ihren Termin platzen, oder sie war durch einen anderen Eingang gekommen. Mit einer federleichten Brise im Nacken saß er auf der Mauer, rauchte und wartete. Der massive Krankenhausbau ragte vor ihm auf wie eine mächtige Betonkiste voller rechteckiger Fenster; bestimmt gab es auf jeder Seite mehrere Eingänge.
Strike streckte sein wundes, immer noch schmerzendes Bein aus und überlegte erneut, ob er es vielleicht wieder untersuchen lassen sollte. Schon die Nähe zu einem Krankenhaus bedrückte ihn. Sein Magen knurrte. Auf dem Weg hierher war er an einem McDonald’s vorbeigekommen. Wenn er sie bis Mittag nicht gefunden hätte, würde er dort einen Stopp einlegen und etwas essen.
Noch zwei Mal sah er eine schwarze Frau an ihm vorbeikommen, und jedes Mal rief er: »Rochelle!«, aber beide Frauen hoben nur kurz den Kopf, um festzustellen, wer gerufen hatte; eine blickte ihn dabei strafend an.
Dann, um kurz nach elf, trat ein untersetztes Mädchen aus der Tür und entfernte sich mit leicht wiegenden, seitlich ausgreifenden Schritten. Er wusste genau, dass er sie nicht durch diesen Eingang hatte hineingehen sehen; nicht nur wegen des unverkennbaren Gangs, sondern weil sie überdies einen äußerst auffälligen Kurzmantel aus magentafarbenem Kunstpelz trug, der weder ihrer Größe noch ihrem Leibesumfang schmeichelte.
»Rochelle!«
Das Mädchen blieb stehen, drehte sich um und hielt finster nach dem Rufer Ausschau. Als Strike auf sie zuhumpelte, starrte sie ihn misstrauisch an.
»Rochelle? Rochelle Onifade? Hallo. Ich heiße Cormoran Strike. Könnte ich kurz mit Ihnen sprechen?«
»Ich komm sonst immer über die Redbourne Street«, erklärte sie ihm fünf Minuten später, nachdem er eine verworrene Erklärung zusammengesponnen hatte, wie er sie aufgespürt hatte. »Ich bin heut bloß hier raus, weil ich noch zu McDonald’s will.«
Und so gingen sie dorthin. Strike erstand zwei Becher Kaffee und zwei Cookies und brachte alles an den Fenstertisch, von dem aus Rochelle ihn neugierig und argwöhnisch beobachtete.
Sie war mitleiderregend unansehnlich. Ihre fettige Haut war grau wie verbrannte Erde und mit Aknepusteln und -kratern übersät; die kleinen Augen lagen tief in den Höhlen, und die schief stehenden Zähne waren vergilbt. Die chemisch geglätteten, an den Wurzeln schwarzen Haare leuchteten ab einer Länge von zehn Zentimetern in einem herben Kupferrot. Die engen, zu kurzen Jeans, die speckige graue Handtasche und die weißen Turnschuhe waren bestimmt billig gewesen – ganz anders als die lange, formlose Kunstpelzjacke, auch wenn Strike sie schrill und unvorteilhaft fand: Als Rochelle sie auszog, sah Strike, dass sie mit einem gemusterten Seidenstoff gefüttert war und das Label eines berühmten Designers trug, und zwar nicht das von Guy Somé (wie er erwartet hätte, nachdem er Lula Landrys E-Mail gelesen hatte), sondern das eines Italieners, von dem selbst Strike gehört hatte.
»Und Sie sin’ echt kein Reporter?« Ihre Stimme war tief und rauchig.
Strike hatte sich schon vor dem Krankenhaus länger bemüht, diesen Verdacht auszuräumen.
»Nein, ich bin kein Reporter. Wie gesagt, ich kenne Lulas Bruder.«
»Sin’ Sie ’n Freund von ihm?«
»Ja. Nein, eigentlich nicht direkt ein Freund. Er hat mich engagiert. Ich bin Privatdetektiv.«
Sie erschrak sichtlich. »Und wieso woll’n Sie mit mir red’n?«
»Sie brauchen sich wirklich keine Gedanken zu machen …«
»Wieso woll’n Sie ausgerechnet mit mir red’n?«
»Es ist nichts Schlimmes. John ist bloß nicht davon überzeugt, dass Lula tatsächlich Selbstmord begangen hat, das ist alles.«
Vermutlich saß sie nur noch vor ihm, weil sie noch mehr Angst davor hatte, was er sich zusammenreimen könnte, wenn sie jetzt Reißaus nähme. Ihre verängstigte Reaktion stand in keinem Verhältnis zu dem, was er sagte oder tat.
»Sie brauchen sich wirklich keine Sorgen zu machen«, versicherte er ihr nochmals. »John möchte nur, dass ich mir die ganze Sache noch einmal ansehe …«
»Meint er, ich hätt was mit ihr’m Tod zu tun?«
»Nein, natürlich nicht. Ich hatte nur gehofft, dass Sie mir etwas über Lulas psychischen Zustand erzählen könnten; ob es irgendetwas gab, das sie in der Zeit vor ihrem Tod besonders beschäftigte. Sie haben sich doch regelmäßig getroffen, oder? Ich dachte, vielleicht könnten Sie mir erzählen, was sich in ihrem Leben so abspielte.«
Rochelle setzte zum Sprechen an, entschied
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