Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
Geistwesen. Die Ahnen aus alten Zeiten wussten so viel mehr über Magie und waren so viel weiser als wir. Deshalb bist du zu gefährlich für Morris geworden. Deshalb soll er dich töten.«
Myra sah Chad zweifelnd an, denn ihr fiel plötzlich etwas ein, das sie in der Aufregung beinahe vergessen hätte.
»Chad, da war diese andere Frau, Meghali Mazumdar. Ihr Name und ihr Aussehen lassen mich vermuten, dass sie indischer Abstammung ist. Wir haben sie in der Zukunft getroffen, auf dem Weg zurück zum Parkplatz. Sie hat gesagt, dass sie uns helfen will, dass unsere Schicksale miteinander verbunden sind, dass wir uns zwanzig Jahre früher, also in unserem Jetzt, hätten treffen sollen …«
»Ich kenne keine Meghali Mazumdar«, meinte Chad. »Und ich kann mir auch nicht erklären, wie Morris von deinen Reisen in die Geisterwelt erfahren haben könnte. Ich hatte gehofft, er wäre nur an deinem Wissen über den Talisman interessiert – aber das hier …« Er dachte nach. »Ich bin mir fast sicher, dass Morris nach dem sucht, was du erhalten hast.«
»Was meinst du?«
»Ich spreche von der Segnung, von den Kräften, die dir von Halvar und Ragn übertragen worden sind«, sagte Chad.
Myra sah ihn erstaunt an. »Runa hat diese Gaben erhalten, nicht ich.«
»Das werden wir sehen«, meinte Chad nachdenklich.
»Chad, hör zu«, erwiderte Myra heftig, »das Ganze wird mir allmählich zu viel! Es stimmt, ich bin sehr dankbar dafür, dass wir uns getroffen haben, aber alles andere … Ich will nichts damit zu tun haben. Ich bin nicht die richtige Person für all dies. Es ist ein Irrtum!«
Chad sah sie erschrocken an und zugleich voller Mitleid. Es stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben, dass die Ereignisse über ihre Kräfte gingen. Zudem zehrten die Reisen in die Geisterwelt an ihren Kräften, und ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt.
Chad wusste nur zu gut, dass sie das Gefühl haben musste, sie säße in einer Falle. Es war zu spät, um einfach aufzuhören, und wenn sie weitermachte, konnte das Ganze nur in einer Tragödie enden. Er legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter, suchte nach den passenden Worten. Aber Myra entzog sich ihm.
»Chad, ein Mann ist hinter mir her, egal, wo ich mich befinde, hier oder in der Zukunft. Mein Leben hat sich innerhalb weniger Tage in einen Alptraum verwandelt! Was ist das für eine Perspektive?« Ihre Stimme war lauter geworden, und sie wiegte ihren Körper leicht vor und zurück, die Arme um die angezogenen Knie geschlungen. Tränen liefen ihr über die Wangen.
Chad packte sie an den Schultern und hielt sie fest. Er musste sie beruhigen, koste es, was es wolle. Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und blickte ihr fest in die Augen.
»Hör mir zu, Myra, bitte. Natürlich sind Morris und seine Freunde ein großes Problem für uns. Aber du darfst nicht vergessen, dass du durch die Zeremonie, in die du hineingeplatzt bist, einen Segen erhalten hast. Es ist eine Last, aber gleichzeitig auch ein Geschenk, in der Geisterwelt bei den Ahnen weilen zu dürfen und Einblicke in die Zukunft zu bekommen. An alle deine Erfahrungen dort kannst du dich genau erinnern. Das ist ein weiteres großes Geschenk. Du kannst diese Erfahrungen hier und jetzt nutzen, um nicht nur dir selbst, sondern auch vielen anderen Menschen zu helfen. Du erinnerst dich, dass mein Stamm in der Zeremonie um Hilfe für viele, sehr viele Menschen gebeten hat. Stell dir vor, was geschehen würde, wenn Morris und seinesgleichen uralte schamanische Kräfte oder Objekte in ihre Hände bekämen! Du bist jetzt ein Mittler zwischen den Welten. Du bist von den Ahnen gerufen worden, du musst stark sein, du musst ein Krieger sein!«
Myra wurde beinahe ärgerlich.
»Schau mich an, ich bin kein Krieger! Ich kann nicht einmal auf mich selbst aufpassen! Ich kann unmöglich die Verantwortung für andere Menschen übernehmen, und beschützen kann ich sie schon gar nicht!«
Chad lächelte und löste seine Hände von ihrem Gesicht.
»Genau deshalb bist du gerufen worden. Du bist vielleicht jetzt noch kein Krieger, aber ich weiß, dass du einer sein wirst, wenn es darauf ankommt. Vertrau mir, ich weiß, wovon ich spreche.«
Sie schwiegen eine Weile, und Myras Nerven beruhigten sich allmählich. Sie schloss die Augen, lehnte ihren Rücken gegen den warmen Felsen, legte den Kopf an Chads starke Schulter und sog die energiegeladenen Strahlen der Sonne in sich auf. Sie spürte die frische Brise, die den Duft der Wildblumen
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