Der Schaedelschmied
selben Glanz erstrahlt wie schon vor Zeiten. Wehret den Anfängen! Heil Hindrych!« Stolz starrte er den grauen Fels an, der jenseits des Kabinengitters vorbeiratterte.
Jorge musste, wie schon in den meisten Räumlichkeiten der obersten, sogenannten nullten Ebene, auch in der Aufzugskabine geduckt, mit eingezogenen Schultern stehen, eine verkrampfte Haltung, die ihm den Schweiß auf die Stirn trieb. »Wenn du mich fragst, Heyner, alter Geistesriese, klingt das ziemlich klischeehaft. Und außerdem irgendwie auswendig gelernt. Weißt du, es gibt da ein altes Trollsprichwort, und das geht so: Wer im Steinhaus sitzt, sollte besser keine dicke Lippe riskieren!«
Glücklicherweise unterband die Ankunft des Fahrstuhls im vierten Tiefgeschoss den Fortgang des Gesprächs. Als sie aus der Kabine traten und sich umsahen, wich Hippolits schlechte Laune basser Verwunderung. Er musste sich eingestehen, dass er die Baumeister Barlyns unterschätzt hatte, und zwar gleich in zweifacher Hinsicht.
Zum einen schien sich bereits die vierte Ebene, sofern er Dauer und Geschwindigkeit der Liftfahrt korrekt einschätzte, mindestens eine halbe Meile tief unter der Erde zu befinden. Jetzt erst dämmerte ihm, wie weit die Zwerge ihre Förderstollen ins Erdinnere getrieben haben mussten – vor weit über einem Zyklus, mit altmodischsten Gerätschaften, nahezu ohne Einsatz von Thaumaturgie. Zum anderen war er, wenn von einer »unterirdischen Stadt« die Rede gewesen war, nie davon ausgegangen, der gigantische Komplex aus Gängen, Wohnungen und Förderanlagen könnte tatsächlich exakt wie eine oberirdische Metropole angelegt sein.
Die breite, ebenmäßig gepflasterte Straße wurde zu beiden Seiten von hohen Gebäudefronten mit unzähligen Fenstern flankiert. Der einzige Unterschied zu einem Geschäftsviertel Nophelets bestand darin, dass die Mauern der Häuser nicht aus einzelnen Steinen gemauert, sondern am Stück aus dem Fels gehauen worden waren. Und natürlich gab es auch keine Zwischenräume zwischen den Gebäuden: Breite, gemeißelte Sicken kennzeichneten den Punkt, wo eine Hausfassade endete und die nächste begann.
Beeindruckt richtete Hippolit den Blick aufwärts. An der Decke des gewaltigen Korridors, im Gegensatz zu den Häuserfronten weder begradigt noch verputzt, leuchteten in regelmäßigen Abständen voluminöse halbkugelförmige Gaslampen. Sie verströmten eine grellgelbe Helligkeit, die Tageslicht erstaunlich nahe kam.
Hippolit hatte von dieser speziellen Art der Beleuchtung gelesen, einer thaumaturgisch verstärkten Technik, die Mitte des Zweiten Zyklus von einem fähigen Industriethaumaturgen namens Meister Lynnert ersonnen worden war. Vor Einführung der nach ihm benannten Lynnert-Leuchten hatte es unter Tage überdurchschnittlich viele Selbstmorde gegeben, außerdem litten die Arbeiter in der sonnenlosen Tiefe unter schlechter Knochensubstanz. Schon bei geringster Belastung brachen sie sich die Glieder und fielen für etliche Zenite aus. Aus diesem Grund entwickelte Lynnert in langjähriger Forschungsarbeit spezielle thaumaturgische Formeln, simpel genug, um auch von mäßig ausgebildeten Zwergenthaumaturgen gewirkt und aufrechterhalten zu werden. Sie sorgten für eine Anreicherung des anämischen Gaslichts um bestimmte Wellen des nicht sichtbaren Spektrums. Diese wirkten sich einerseits positiv auf die Knochensubstanz der unter Tage Lebenden aus, zum anderen auf deren Psyche. Sogar der Wechsel von Tag und Nacht konnte mithilfe der stufenlos dimmbaren Lichter simuliert werden. Bereits beim ersten Testbetrieb gingen die Arbeitsausfälle merklich zurück, die Produktivität stieg. Seithergehörten Lynnert-Leuchten auf den Straßen und Plätzen aller ans Gasnetz angeschlossenen Ebenen Barlyns zum Allgemeinbild.
Nachdem sich auch Jorge aus der Fahrstuhlkabine geschält und unter lautstarkem Stöhnen seine Glieder gestreckt hatte, waren sie Heyner die Hauptstraße entlang gefolgt. Obwohl es noch früh am Nachmittag war, die meisten Zwerge sich folglich bei der Arbeit befanden, war auf der Straße genug los, um Hippolit zu einer dritten wichtigen Erkenntnis in Bezug auf Barlyn zu verhelfen: Die Bewohner der Zwergenstadt weckten in ihm deutlich weniger Bewunderung als ihre Architektur.
Aufgrund von Jorges Größe, die hier selbstredend krasser auffiel als daheim in Nophelet, sowie seiner eigenen missgestalteten Physis war Hippolit es mittlerweile gewohnt, auf gemeinsamen Dienstgängen angestarrt, zuweilen sogar ausgelacht
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