Der Schatten des Chamaeleons
»Wo sind meine hundert Mäuse?«, fragte sie, bevor sie einen Bissen Toast mit einem Riesenschluck Tee hinunterspülte. »Daisy ist eine alte Linksliberale. Profit ist für sie ein dreckiges Wort, und alle Verbrecher kommen aus zerrütteten Familien.« Sie hielt ihm die geöffnete Hand hin. »Ich erwarte von den Leuten, dass sie zahlen, was sie schulden.«
»Sie haben mir aber die Wahl gelassen«, hielt Acland ihr vor. »Zahlen oder selber sauber machen.«
»Zu spät. Daisy hat das gestern Abend erledigt. Blut und Kotze darf man nicht einziehen lassen, sonst kriegt man sie nicht mehr raus.« Daisy runzelte die Stirn, als wollte sie widersprechen, aber Jackson redete schon weiter. »Sie können von Glück sagen, dass ich Ihnen nicht ein neues Shirt berechne. Ich muss meins bestimmt zehnmal waschen, ehe der letzte Rest von dem Bier raus ist, mit dem Sie mich eingesaut haben.«
Acland zählte fünf Zwanziger ab und übergab sie zusammen mit dem Fünf-Pfund-Schein, den Daisy zurückgewiesen hatte. Jackson nahm alles und drehte sich auf ihrem Stuhl, um eine Schublade zu öffnen. Bevor sie sie wieder schloss, bemerkte er flüchtig einen kleineren Stapel Geldscheine mit einer Zehn-Pfund-Note obenauf. »Mansurs Beitrag«, erklärte sie, als sie beim Umdrehen seinen Blick auffing. »Alles in allem kein schlechter Abend.«
Er empfand plötzliche Abneigung gegen sie. Aber vielleicht hatte er sie auch von Anfang an nicht gemocht, und sein Misstrauen war lediglich größer geworden. Sie war eine hässliche Frau - grob und geldgierig -, und sie genoss es offensichtlich, andere zu tyrannisieren. Flüchtig dachte er über Daisys Rolle in dieser Beziehung nach. War sie Jacksons gehorsame Dienerin? Ein hübsches Dekorationsstück, das abserviert wurde, wenn etwas noch Hübscheres daherkam? War sie aus Liebe da? Aus Notwendigkeit? Waren die beiden gleichwertige Partner? Er sah ihr zu, wie sie Jackson einen Toast mit Butter bestrich. Letztlich war es ihm egal. Das Ganze widerte ihn so sehr an, dass er seinen Stuhl krachend zurückschob und aufstand.
»Ich brauche meine Sachen«, sagte er brüsk. »Wenn Sie mir sagen, wo sie sind, hole ich sie mir selbst.«
Überrascht von seinem Ton fragte Daisy mit einem unsicheren Lächeln: »Alles in Ordnung?«
»Bestens - aber ich muss jetzt los. Ich bin spät dran.«
»Okay.« Sie wies auf eine Tür, die sich hinter ihr befand. »Da durch, erste rechts, da liegen Ihre Sachen auf dem Bügelbrett. Wenn Sie sich umgezogen haben, gehen Sie einfach den Korridor entlang. Ganz am Ende ist ein Ausgang zur Murray Street. Finden Sie sich von da aus zurecht?«
Acland nickte.
»Vergessen Sie nur nicht, meinen Bademantel dazulassen«, sagte Jackson, während sie ein Messer voller Butter in die Orangenmarmelade tauchte. »Der hat mich ein Vermögen gekostet.«
Er holte tief Luft und richtete das Wort an Daisy. »Vielen Dank.«
»Wofür?«
»Für das Frühstück - und dass Sie hinter mir sauber gemacht und meine Sachen gewaschen haben.«
Daisy grinste. »Wissen Sie was? Sie sollten nicht alles glauben, was Jackson sagt. Sie biegt sich die Wahrheit zurecht, wie es ihr gerade passt.«
Er war verwirrt. »Ich verstehe nicht.«
Bevor Daisy etwas sagen konnte, funkte schon wieder Jackson dazwischen. »Den Bademantel habe ich in einem Oxfam-Laden für zwei Pfund gekauft«, sagte sie, »aber deswegen können Sie ihn noch lange nicht mitnehmen.«
»Das hatte ich auch nicht vor«, versetzte Acland steif, löste den Gürtel und zog den Bademantel aus. »Bitte sehr.« Er legte ihn über die Stuhllehne. »Ich möchte nicht gern von Ihnen des Diebstahls beschuldigt werden, wenn ich weg bin.«
Ihr amüsierter Blick glitt von seiner Unterhose zu den Socken und Schuhen. »Sie neigen zu vorschnellen Urteilen, Freund, und die machen Ihnen keine Ehre. Ein Einäugiger ist ja nicht gleich blind oder dumm - oder sollte es nicht sein -, bei Ihnen allerdings bekomme ich langsam gewisse Zweifel. Sie können gern wiederkommen, wenn Sie ein bisschen Toleranz gelernt haben - aber nicht vorher.«
»Das wird nicht passieren«, sagte er, schon auf dem Weg zur Tür. »Kann ich mir nicht leisten.«
»Aber klar können Sie das«, entgegnete sie ungerührt. »Wer die volle Woche bleibt, kriegt bei Daisy zehn Prozent Rabatt.«
8
Da er fast sein ganzes Bargeld bei Jackson gelassen hatte, machte Acland auf dem Weg zur U-Bahn einen Abstecher zu einem Geldautomaten. Er zog den Geldbeutel aus der Gesäßtasche seiner Hose und
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