Der Schatten des Horus
Transplantationen immer solch eine Eile geboten. Kaum war der Spender verblichen, landete schon der Hubschrauber mit dem kranken Empfänger. Sie jedoch hatten alle Zeit der Welt!
Die Mysten sangen lauter. Auch die beiden Krankenschwestern stimmten nun mit ein. Theodorakis hob das Mumienherz entschlossen aus den Splittern und reinigte es gewissenhaft. Die Trommelschläge wurden lauter, die Stimmen klangen erregter. Birger Jacobsens eigenes Herz schlug so heftig, dass er den Mund aufmachen musste, um ausreichend Sauerstoff einsaugen zu können. Sein Augenlid begann zu zucken. Genau in dem Augenblick, als Theodorakis dem sa das Mumienherz in die Brust legte, gebar Birger Jacobsens Auge eine einzelne Träne. Eigenwillig und mit störrischer Entschlossenheit bahnte sie sich einen Weg über die Kraterlandschaft seines Gesichts, ehe sie ihm vom Kinn heruntertropfte, geradewegs in die Wunde hinein.
»Seth, du Hund mit der großen Kraft«, schrie er in Trance. »Hilf deinem ersten Diener! Lass ihn zurückkehren zu uns!«
Auch die anderen beiden Wesire schienen vollkommen in Ekstase versetzt. Der Trommler warf den Kopf unkontrolliert hin und her, der andere bebte am ganzen Körper, wie bei einem epileptischen Anfall.
Die Schwestern hörten auf zu singen. Schnell waren sie wieder eifrig und konzentriert bei der Sache, reichten dem Chirurgen ungefragt Wundhaken und Klammern, Skalpelle und Nadeln. Wie die Zahnräder in einem Uhrwerk griffen ihre Bewegungen ineinander, führten ihre Hände ein lange einstudiertes Ballett auf. Über vier Kanäle schlossen sie das Mumienherz an Sids Kreislauf an: über die beiden Vorhöfe, die Aorta und die Lungenvene. Alles ging erstaunlich schnell, Theodorakis war geübt. Zischend saugte er die Luft aus dem Operationsgebiet. Zufrieden mit seinem Werk wischte er sich den Schweiß von der Stirn, der nun in Strömen unter der Hundefratze hervorquoll.
Das Mumienherz passte! Ba-Bomm! Und dann kam das, was Birger Jacobsen noch lange, sehr lange beschäftigen sollte. Theodorakis streute den roten Sand der ägyptischen Wüste in die Wunde und sprach eine Formel, die ihm, Birger Jacobsen, bis dahin unbekannt gewesen war.
» Juf, chetem tju, scha en chasetek er seneferek! «
Die Wundränder zogen sich zusammen. Die Stellen, die durch die scharfe Schneide getrennt worden waren, bewegten sich aufeinander zu. Langsam verschloss sich der Brustkorb, das Fleisch wuchs, neue Haut spannte sich. Der Eingriff hatte keine sichtbaren Spuren hinterlassen, zurück blieb nur die fünfzehn Jahre alte, schmale Narbe.
Der Gesang verstummte abrupt.
»Alles ist gut«, sagte Theodorakis mit ruhiger Stimme. »Bringt den sa in das Krankenzimmer.«
Birger Jacobsen war schlagartig wieder klar im Kopf. Theodorakis konnte etwas, von dem er keine Ahnung hatte.
23. Kapitel
SMS-Message:
Sid, wir haben einen großen Fehler gemacht.
Wo immer du bist, steig in ein Taxi und komm zurück. Mum und Dad.
SMS-Message:
Geht es dir gut? Wir machen uns Sorgen.
Mum und Dad.
SMS-Message:
Kommst du mit zu den Knicks? Nigel.
SMS-Message:
Sid, bitte melde dich doch! Du kannst uns vertrauen. Wir haben Angst um dich! Mum und Dad.
SMS-Message:
Sid, es ist alles ein großes Missverständnis.
Ohne Medikamente wird es nur noch schlimmer!
Deine Krankheit muss behandelt werden.
Dann wird alles gut. Panajotis.
24. Kapitel
Kairo, Dienstag, 16 . Oktober 2007, 6 Uhr
Der Muezzin und die knarzenden Lautsprecher der Moschee hatten es wieder geschafft, Sid im Morgengrauen zu wecken. Eine Stunde lang hockte er auf der durchgelegenen Matratze und beobachtete Rascal beim Schlafen.
Ihr Gesicht ist das schönste Kunstwerk, das ich je gesehen habe!, durchzuckte es ihn. Sofort schämte er sich für diesen Kitsch. Pubertätspoesie, schrecklich!
Die Moskitospirale auf dem Fensterbrett war abgebrannt. Sid konzentrierte sich auf sein Gehör. Acht Mücken waren im Raum. Ihr Summen unterschied sich um Nuancen voneinander. Immer wenn sich eine von ihnen in seine Nähe wagte, fügte er den unzähligen Blutflecken an der Wand einen weiteren hinzu. Er wollte sich nicht aussaugen lassen, von einem Insekt nicht und von einem fünfzehntausend Jahre alten Herzen schon lange nicht! Er zog sein Ramones-T-Shirt über den Kopf und fuhr mit dem Zeigefinger die lange bläuliche Narbe auf seiner Brust nach. Sie hatte sich nach seinem Unfall nicht verändert, Panajotis Theodorakis musste eine Methode gefunden haben, die neuerliche Wunde unmerklich zu schließen. Oder war er
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