Der Schatten des Horus
der allerdämlichste Tourist, wo das Original aufbewahrt wurde. Schnell wanderte der Schein in eine Falte seines Gewands, dann stand er auf und verschwand in der weitläufigen Ebene. Sid sah ihm nach. Von Weitem hörte er ihn flüstern: » Bring ihn in die Kammer, sa! «
Sid erstarrte für einen Moment. Ein kalter Schauer jagte ihm den Rücken hinunter. War das der Beduine gewesen? Oder war die Stimme aus seinem Inneren gekomme n – vom Mumienherz? Hatte er sich alles nur eingebildet? Vielleicht ein Windhauch?
Schnell steckte er die fingerlange Figur in seine Hosentasche und beeilte sich, die anderen einzuholen. Seltsamerweise waren Yusuf, Professor Saladim und Rascal die Einzigen, die vor dem verschlossenen Eingang zur Großen Pyramide warteten. Schnell erfuhr er von Yusuf den Grund: »Für die Pyramiden herrschen strikte Auflagen der Altertumsbehörde. Pro Tag dürfen nur dreihundert Personen hinein, einhundertfünfzig vormittags, einhundertfünfzig nachmittags. Die Ausdünstungen der Leute, im Durchschnitt zwanzig Milliliter durchschnittlich, zerstören sonst das Bauwerk nach und nach immer mehr.« Er warf einen Blick auf die Uhr. »Die Besucher vom Vormittag sind durch, die Wärter machen sicher Mittagspause. Ich gehe sie suchen, vielleicht kann uns einer von ihnen ein bisschen behilflich sein.« Yusuf eilte die Außenkante entlang, Sid schwitzte vom bloßen Zusehen. Professor Saladim knotete sein gewaltiges Taschentuch zu einer Kopfbedeckung zusammen, sank wie ein Büßer auf die Knie und betastete das Pflaster.
Sid streckte sich und kletterte auf die unterste Schicht der Pyramide, die nicht gemauert, sondern aus dem Fels herausgehauen und dann begradigt worden war. Amüsiert bemerkte er, wie sich Rascals Augen geschockt weiteten.
»Keine Angst, weiter gehe ich nicht«, beruhigte er sie. »Komm, setz dich neben mich!« Er reichte Rascal die Hand und zog sie zu sich nach oben. »Hat Saladim noch irgendwas gesagt, was uns weiterhelfen könnte?«
Rascal schüttelte den Kopf. »Nein. Ich fürchte, wir haben dem armen Mann ganz umsonst die Zeit gestohlen.«
Sid betastete die Gipsfigur in seiner Tasche und dachte nach. Attila Nagy war dem Seth-Kult auf der Spur gewesen und hatte ihn und Rasca l – oder besser seinen Freund Pulitze r – hierhergelockt. Allerdings stammte der Brief aus dem Jahr 1878. Damals waren bestimmt noch nicht die heutigen Touristenmassen durch das Niltal geströmt. Auch wenn sie seinen Hinweis richtig gedeutet hatten und die ausgerissenen Seiten aus dem Notizbuch tatsächlich einmal in der Pyramide versteckt gewesen waren, wo sollten sie sein?
»Meinst du wirklich, einhundertdreißig Jahre lang sind keinem Besucher ein paar Blätter mit hingekritzelten Informationen aufgefallen?«, fragte er bissig. »Seitdem sind sicher tausend Wissenschaftler und Millionen Touris da drin gewesen.« Er sog die Luft ein. »Und riechen tue ich diesmal auch nichts. Vielleicht war Nagy gar nicht hier!«
Rascal zuckte mit den Schultern. »Vielleicht nicht. Aber wenn wir hier draußen sitzen bleiben, werden wir es nie erfahren!« Sie sprang von der Mauer herunter.
Yusuf bog eben mit einem Mann im weißen Kaftan um die Ecke. Er redete wild auf ihn ein. Als er bei Sid und Rascal ankam, grinste Yusuf über das ganze Gesicht. »Ahmed ist bereit, uns eine Ausnahmegenehmigung für die Besichtigung zu erteilen«, berichtete er. »Wegen besonderem wissenschaftlichem Interesse!« Sid verstand, er hatte die Lektion längst gelernt. Für ein ordentliches Trinkgeld war in diesem Land fast alles zu erreichen. Man konnte es als Korruption deuten oder als Möglichkeit, die Dinge elegant zu beschleunigen. Er reichte dem Ägypter einen Fünfzig-Dollar-Schein. Sie wurden gebeten, einzutreten. Der Mann, der Ahmed hieß, stieg geübt die Stufen zum Eingang der Pyramide empor. Professor Saladim schloss sich ihnen an, Yusuf aber zog es vor, trotz der Hitze draußen auf sie zu warten.
»Ich war schon öfter hier drin als in meinem Wohnzimmer«, erklärte er ironisch. »Wenn ihr mich sucht, ich bin im Zelt bei den Kameltreibern!«
Sid zitterte bei jedem Schritt. Sein Körper schien sich noch an den kürzlichen Aufstieg zu erinnern. Unsicher schielte er nach unten. Nach geschätzten fünfzehn Höhenmetern erreichten sie eine hölzerne Rampe aus drei breiten Bohlen, die schräg nach unten führte. Querverstrebungen und ein verrostetes Geländer sollten ein Abrutschen der Besucher verhindern. Am Ende dieser Brücke gähnte ein
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