Der Schattenbund 02 - Der Geist des Steines
Was war aus ihren Freunden geworden? Welche Zerstörung würde Amaurn als nächstes anrichten? Falls sie diesem Ort je wieder entkäme, würden ihre Freunde dann überhaupt noch am Leben sein? Würde sie die Welt noch wiedererkennen?
Und wie viel Zeit bleibt mir, bevor sich mein Verstand endgültig aufgelöst hat?
Dieser Gedanke war so überwältigend, dass sie unwillkürlich floh und blindlings durch den Raum sauste, um diese furchtbare Leere nur irgendwie zu verlassen. Aber wie konnte sie ohne eine Veränderung der Umgebung überhaupt sicher sein, dass sie sich bewegt hatte?
Ich muss mich zusammennehmen. Wenn mir das nicht gelingt, werde ich verrückt.
Die Vorstellung, wahnsinnig zu werden, genügte, um die drohende Panik abzuwenden. *Ruhig, Thirishri, ruhig*, befahl sie sich im hintersten Winkel ihres Verstandes. Sie kämpfte um Gelassenheit, ging mit Bedacht auf Abstand zu ihrer Angst, bis sie gewissermaßen fern und verschwindend klein war. Dann strengte sie ihren Geist an und schuf sich ein Bollwerk, das unüberwindlich war und die leere Dunkelheit um sie herum sicher ausschloss. Sie behalf sich mit Erinnerungen an glückliche Zeiten, an einst errungene Siege, an Liebe und herzliche Freundschaften, die sie mit so vielen verbunden hatte. Sie baute ihre Festung stark und hoch, machte sie hell und krönte sie mit einem Turm aus Zukunftsplänen und Wünschen, über dem das Leuchtfeuer der Hoffnung brannte.
Dieses Gebäude hielt die Leere fern und war ihre Zuflucht vor Angst und Hilflosigkeit. Innerhalb der strahlenden Mauern vermochte sie wieder klar zu denken und ihre Vorstellungskraft im Zaum zu halten. So war ihr geistiges Überleben gesichert, eine Zeit lang wenigstens, aber es würde ihr nicht zur Flucht verhelfen. Nichts könnte ihr dazu verhelfen. Nein, sie würde warten müssen, bis Blank sie befreite – und wie wahrscheinlich war das? – oder bis ihre Freunde sie retteten. Aber ehe sie ihr helfen könnten, würden sie herausfinden müssen, wo sie sich befand, und dann müssten sie das Gefängnis dem Verräter erst noch entreißen.
Die Furcht, vielleicht niemals befreit zu werden, warf sie zurück, ließ Zweifel und Verwirrung wiederkehren, und ihre Angst stürmte wie eine finstere Armee gegen die Festung, die sie sich so sorgfältig gebaut hatte. Sie spürte, wie es die Grundfesten erzitterten. Dann richtete sie ihre Gedanken entschlossen auf etwas anderes, schwelgte in hellen, warmen Erinnerungen. Da sie nichts anderes tun konnte, ließ sie sich treiben und gab sich der Sicherheit ihres Gedankengebäudes hin, hielt ihr Bewusstsein von der schrecklichen Leere fern, in der man nicht einmal unterscheiden konnte, ob man sich fortbewegte oder nicht. Stattdessen begab sie sich in eine Traumlandschaft, die einigermaßen tröstlich war.
Als das Licht aufleuchtete, konnte sie es nicht glauben. Sie riss sich aus ihrer Gedankenwelt und sah tatsächlich einen entfernten, schwachen Schein wie einen Sonnenaufgang am Horizont. Doch anstatt erleichtert zu sein, geriet sie in Panik.
Jetzt ist es passiert! Ich habe den Verstand verloren! Blank hat gewonnen, und ich bin verrückt geworden!
»Nein, bist du nicht.«
Und jetzt höre ich auch noch Stimmen!
»Nein, hörst du nicht. Oder besser gesagt, du hörst meine Stimme, und nichts Eingebildetes. Konntest du angesichts der Tatsache, dass das magische Volk dieses Werkzeug schon so lange besitzt, wirklich annehmen, dass du hier die einzige Gefangene bist? Komm, Luftgeist, folge dem Licht. Du ahnst nicht, wie gut es tut, nach so langer Zeit eine Gefährtin zu haben.«
Thirishri konnte nur halb glauben, dass das Gehörte der Wirklichkeit entsprang, und fürchtete sich schon vor den Folgen, wenn sie feststellen müsste, dass sie es sich nur eingebildet hatte. Misstrauisch schwebte sie dem fernen Lichtschein entgegen. Ob Wahn oder nicht, ihr wurde ganz schwach vor Erleichterung angesichts der Möglichkeit, dass es etwas außer der endlosen Dunkelheit geben könnte. Während sie sich vorwärts bewegte, wurde es heller, und plötzlich stieß sie vollkommen unvermutet in strahlenden Sonnenschein vor und schwebte über einer tiefblauen See, die sich weit unter ihr befand.
Was im Namen alles Wunderbaren …?
Ein weiterer Anblick unterbrach Thirishri in ihrer Verwunderung. In der Ferne lag eine Insel, die in der stillen See zu treiben schien. Sie war langgestreckt und schmal und krümmte sich zu einer Sichel. Graugrüne Wälder milderten die schroffen Konturen der Berge,
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