Der Schattensucher (German Edition)
wartete. Würde sie ihm entgegenlaufen, wenn er über die Zugbrücke kam? Würde er sie überraschen und sie würde ihn verwirrt anschauen? Alles hatte seinen ganz eigenen Zauber und er wusste, dass seine jetzige Vorstellung nur ein schwacher Abglanz davon war.
Was für ein Tag! , sagte er sich und faltete seine Decke zusammen. Er wischte den Schmutz ab, ergriff die Tasche und steckte die Decke hinein. Er wollte die Tasche eben zubinden, da fuhr er mit der Hand noch einmal hinein und tastete umher. Bei all den Gegenständen wollte er die Ordnung halten. Er tastete weiter und aus dem Tasten wurde ein Suchen und Wühlen. Das kann doch nicht sein! Er riss die Decke wieder heraus, dann einen Gegenstand nach dem anderen. Immer nervöser durchwühlte er alle Ecken der Tasche. Schließlich drehte er sie um und schüttete alles auf dem Boden aus. Auf den ersten Blick sah er es: Das braune Stoffstück, in das er seinen Stein eingewickelt hatte, war weg.
Nein, Junge, das hast du nicht ernsthaft getan. Er rannte zum Rand des Daches, schaute zur Straße hinunter und sah nur ein paar einzelne Leute umherziehen. Ein Meer von Dächern, durchzogen von unendlich vielen verwinkelten Straßen, erstreckte sich vor ihm. Wo bist du hin, mein Freund? Du kannst doch nicht weg sein.
Er ging zu seinen Sachen zurück, packte sie rasch in die Tasche und warf sie sich über die Schulter. Über das Dach des Nachbarhauses und ein Vordach gelangte er auf die Straße hinunter. Es ging in drei Richtungen. Verzweifelt blieb er auf der Einmündung stehen.
Wo steckst du? Du spielst doch nur mit mir, oder?
Er ging in eine Richtung, begegnete zwei, drei Leuten, merkte aber, dass die Gasse immer enger wurde und in eine Sackgasse führte. Er rannte zur Einmündung zurück und nahm eine andere Richtung. Schon bald erreichte er eine Kreuzung, die ihn auf eine breitere Straße führte. Immerzu blickte er hektisch um sich, sah sich jeden Einzelnen genau an. Einige Leute fragte er nach dem Jungen – vergeblich. Schon bald machte sich das Gefühl in ihm breit, dass es aussichtslos war, den Jungen finden zu wollen. Sollte er zurückgehen und auf ihn warten? Vielleicht war es das Beste. Immerhin hatte der Junge seine Sachen zurückgelassen. Wenn er nur spielte, würde sich alles klären. Aber was, wenn er nicht spielte?
Er hatte von verkaufen gesprochen, dämmerte es ihm. Vielleicht war es ein Spaß gewesen. Aber dieser Junge unterschied nicht zwischen Spaß und Ernst. Er konnte doch nicht diesen Stein verkaufen! Diesen Stein für ein paar lumpige Makel!
Gegenüber war ein Gasthaus. Die Wanne stand auf dem Schild. Alvin rannte über die Straße, riss die Tür auf und betrat einen fast leeren Raum. Nur ein buckliger Kerl saß ganz hinten am Tisch. Alvin ging zum Tresen und ein erstaunter Wirt trat herbei.
»Nanu, Besuch so früh am Morgen? Ihr wollt Euch doch nicht jetzt schon die Kante geben?«
»Ich suche einen Jungen. Er war nicht zufällig hier?«
»Nein. Hier war keiner.« Wieso sollte er auch? , dachte sich Alvin.
»Ihr bekommt doch sicher einiges mit. Gibt es hier in der Nähe jemanden, der mit Edelsteinen handelt?«
Der Wirt rieb sich am Kinn und runzelte die Stirn. »Wenn ich es richtig weiß, gibt es in der Umgebung drei Händler dieser Art. Sie haben ihr Haus alle an dieser Straße, wenn Ihr sie ein paar Hundert Meter hinuntergeht.«
»Würden die auch mit einem Jungen verhandeln?«
»Ich weiß es nicht. Sie werden von der Stadtwache streng kontrolliert.«
»Hm. Danke für Eure Hilfe.«
Alvin wandte sich ab und ging zur Tür, da kam es aus der hinteren Ecke: »Ihr habt Noach vergessen, den alten Lump.«
Schnell drehte sich Alvin um. Der Kerl machte sich nicht die Mühe, ihm sein Gesicht zuzuwenden.
»Noach, sagtet Ihr?«
»Ist nicht legal, aber bekannt«, grummelte es hinter dem Buckel hervor.
»Richtig«, ergänzte der Wirt. »Er ist ein beinharter Kerl, der früher bei der Stadtwache war. Lässt sich aber gerne hereinlegen.«
»Das klingt gut. Könnt Ihr mir sagen, wo ich ihn finde?«
Alvins Puls ging schneller. Er versuchte sich zu konzentrieren, als der Wirt ihm den Weg beschrieb. Dankbar rannte er aus der Wanne , eilte die Straße entlang und ging die lange Treppe hinab, die der Wirt beschrieben hatte. Er gelangte in ein zurückgezogenes, enges Viertel mit teils zerfallenen Häusern. Die fünfte Gasse links, dann die zweite rechts und das Haus am Ende der Sackgasse, rief er sich ins Gedächtnis.
Es war ein gruseliger Teil von
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