Der Scheich
Unerschrockenheit und die Liebe zum Abenteuer hätten die Expedition für ihn zu einem unvergeßlichen Erlebnis gemacht. Doch die Ursache des Ritts, nämlich daß das Mädchen, in das er sich so unerwartet verliebt hatte, in Gefahr schwebte, warf ein anderes Licht auf diese Szenerie. Kalte Angst und Anspannung erfüllten sein Herz. Und was mochte der Mann an seiner Seite empfinden? Der verächtliche Gleichmut, mit dem Ahmed noch vor einer Woche seine Frage aufgenommen hatte, wurde an diesem Abend Lügen gestraft, denn er war unverkennbar besorgt. Seit dem Aufbruch hatten die beiden Freunde kein einziges Wort gewechselt, und Saint Hubert fühlte sich außerstande, das Schweigen zu brechen. Sie verließen das flache Gelände und preschten zwischen Hügeln dahin, die silberweiß im Mondschein leuchteten. In den Senken ballten sich dunkle Schatten, wie tiefe, stille schwarze Teiche.
Am Fuß eines Hügels zügelte Ahmed plötzlich sein Pferd und stieß einen halberstickten Laut aus. Eine helle Gestalt lag bäuchlings im Sand und wäre beinahe unter Habichts Hufe geraten. Während der Trupp anhielt, huschten zwei lautlose Schatten in der Nacht davon. Fast gleichzeitig beugten sich der Scheich und Henri über den reglosen Körper, und Saint Hubert folgte ihnen. Hastig untersuchte er den Mann.
Ein Streifschuß an der Stirn hatte Gaston niedergestreckt, andere Kugeln waren in Schultern, Arme und Beine gedrungen. Er hatte sich eine Meile weit geschleppt, ehe er, vom Blutverlust geschwächt, das Bewußtsein verloren hatte. Unter Saint Huberts kundigen Händen kam er zu sich und richtete seinen verschleierten Blick auf den Scheich, der neben ihm kniete. «Monseigneur - Madame - Ibraheim Omair», hauchte er. Dann schwanden ihm wieder die Sinne.
Sekundenlang trafen sich Raouls und Ahmeds Blicke über den schwerverletzten Diener hinweg. Der Scheich sprang auf. «Beeil dich!» bat er und kehrte zu seinem Pferd zurück. An Habichts Flanke gelehnt, tastete er mechanisch nach einer Zigarette und zündete sie an. Blicklos beobachtete er die Männer rings um Gaston.
Die gestammelten Worte des Kammerdieners hatten die Angst noch gesteigert, die Ahmed zu unterdrücken suchte, seit Diane vermißt wurde. Nur ein einziges Mal war er Ibraheim Omair begegnet, vor zehn Jahren, als er seinen Vater zu einem Treffen der mächtigsten Scheichs von Algerien - unter französischer Schirmherrschaft - begleitet hatte. Bei dieser Konferenz sollten strittige Grenzfragen geklärt und drohende Unruhen unter den Arabern verhindert werden, die dem Ansehen der französischen Regierung geschadet hätten. Außerdem wären die Franzosen nicht in der Lage gewesen, sie niederzuschlagen. Ahmed hatte sich maßlos geärgert, weil er den Erbfeind wie einen Gleichgestellten behandeln mußte. Nur der mäßigende Einfluß des alten Scheichs, dem sogar sein Erbe bedingungslosen Gehorsam schuldete, hatte eine Katastrophe verhindert. Sonst hätte die Konferenz womöglich gar nicht stattgefunden, und der ursprüngliche Grenzstreit wäre von den neuen Verwicklungen bei weitem übertroffen worden.
In all den Jahren hatte ihn die Erinnerung an den Räuberscheich verfolgt. Auch jetzt erschien sein Bild vor seinem geistigen Auge: ein aufgedunsenes, bösartiges Gesicht, ein fetter, träger Körper. Ibraheim Omair und das schlanke, zierliche Mädchen, das Ahmed so teuer war! Diane! Wütend zerbiß er den Filter seiner Zigarette. Seine sinnlose Eifersucht und den Zorn über Saint Huberts Kritik hatte er an einem unschuldigen Opfer ausgelassen. Sie, nicht der Freund, hatte seinen Groll zu spüren bekommen. Und da er einen Hang zur Grausamkeit besaß, hatte es ihm Freude bereitet, die Verwirrung und die Angst in Dianes blauen Augen zu lesen und ihr in zwei Monaten gewachsenes Vertrauen zu zerstören. Deutlich hatte er sie sein Mißfallen spüren lassen. Am letzten Abend war sie, bestürzt über seine Rücksichtslosigkeit und seine grundlose Gereiztheit, mehrmals zusammengezuckt. Nachdem Saint Hubert sich ins Gästezelt zurückgezogen hatte, hatte sie Ahmed mit einem Blick angestarrt, der ihn noch mehr aufgebracht und in ihm den Wunsch geweckt hatte, sie zu quälen. Der stumme Vorwurf in ihren Augen entfesselte die wilde Wut, die er eine Woche lang nur mühsam bezähmt hatte. Zitternd und hilflos lag sie in seinen Armen und zuckte vor seinen Liebkosungen zurück, die nur ein Ausdruck seines Grolls waren. Ihre anklagende Miene verwandelte sich in eine flehende Bitte. Und wieder war das
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