Der Schlaf und der Tod: Thriller (German Edition)
Schatz? Hast du gut geschlafen?«
All diese Fragen. Warum stellte er sie überhaupt noch?, fragte er sich. Vielleicht sollte er einfach ins Zimmer kommen, sich an ihr Bett setzen und nichts sagen. Wenn Stille die Sprache war, die sie vorzog, war sie vielleicht die beste. Für sie beide.
»Ich sage dir, das war heute vielleicht ein anstrengender Tag«, sagte er und setzte sich auf ihre Bettkante. »Wenn du wüsstest, wie viele Menschen Schlafprobleme haben.« Er sah ihr in die Augen, das warme Braun der Iris hatte sie von ihrer Mutter. War er ärgerlich auf seine Tochter? Er musste in sich gehen, um sich diese Frage zu beantworten. Nein, heute nicht. Zum Glück nicht. Er verachtete sich selbst, wenn dieses Gefühl ihn übermannte, trotzdem hatte er in der letzten Zeit mehr als einmal Lust bekommen, sie zu schütteln, sie anzuschreien, doch endlich wieder zu reden. Wie lange sollte das noch so weitergehen? Es machte keinen Sinn, hier zu sitzen und Löcher in die Luft zu starren. Warum konnte sie das denn nicht einsehen? Aber heute ging es ihm nicht so. Heute war er nicht wütend auf sie. Im Ge genteil. Heute gab es ihm Kraft, sie zu sehen. Es gab ihm den Mut, weiterzumachen und seinen Plan mit Hannah Lund erfolgreich zu Ende zu bringen. Für Silke. Nur wegen ihr tat er das alles. Er wollte sie retten. Seine Tochter aus dem Gefängnis befreien, in dem sie gelandet war. Er nahm sie in seine Arme und drückte sie fest an sich.
»Halte durch, Schatz«, flüsterte er. »Du musst stark sein. Es werden vielleicht ein paar Tage vergehen, bis du mich wiedersiehst. Ich muss etwas erledigen. Für dich.« Er nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände. Suchte ihren Blick. »Verstehst du das, Silke? Bald wird alles gut werden, das verspreche ich. Hörst du mich? Ich liebe dich. Alles, was ich tue, tue ich für dich. Das musst du wissen.«
Dann saßen sie eine Weile einfach nur da. Bis er sich schließlich erhob und den Raum verließ. In der Tür drehte er sich noch einmal um. Warf einen letzten Blick auf seine Tochter. Sie sah ihm nach. Lächelte sie ihn an? Hatte sie verstanden, was er gesagt hatte? Dieses Mal schaffte er es auf die andere Seite der Tür, bevor die Tränen kamen. Vielleicht habe ich sie gerade zum letzten Mal gesehen, dachte er und verließ die Klinik.
TEIL II Das Buch der Seele
TEIL II
Das Buch der Seele
Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott . Wann werde ich dahin kommen, dass ich Gottes Angesicht schaue?
Psalm 42,3
1.
Amager, 22.30 Uhr
Niels wartete seit dem frühen Abend darauf, dass der Tag sich dem Ende zuneigte und die Lampen angemacht wurden. Ein rotes Licht, wie Dicte es auf der Aufnahme gesagt hatte. Noch war nichts zu sehen. Nur brauner Backstein. Bestimmt waren die Steine einmal rot gewesen, als die Fabrik vor 150 Jahren erbaut worden war. Seither hatten sich die Abgase der Betriebe ringsherum wie eine neue Schicht Farbe auf die Industrieruine gelegt. Ausgestorbene Industrie, längst in andere Länder verlagert, in denen es keine Krankenversicherung gab und man es sich noch leisten konnte, seine Bürger mit allen möglichen Abgasen zu bedampfen. Jetzt beherbergten die alten Fabriken die Studios von Fotografen und Designern, Vertreter der sogenannten Kreativklasse, Internettypen jeglicher Couleur.
Was hatte Dicte sonst noch gesagt? Dass sich ihre Gruppe hier traf. Inklusive Joachim, den sie für einen Freund hielt. Aber es war häufig so, dass die Opfer ihren Mördern vertrauten. Wie Dicte Joachim vertraut hatte.
Und sonst? Acheron . Selbstverständlich. Nicht Echelon. Sie hatte auch gar nicht mehr verfolgt ausgesehen, als sie dieses Wort gesagt hatte. Eher wie jemand, der seine Ruhe gefunden hatte. Eine Atempause in ihrem Albtraum. Sie hatte den Tod gesehen – und darauf vertraut, dass es dieses Mal gut gehen würde.
Gegenüber der alten Fabrik neben der Metro . Das konnte nur hier sein, wo die Metro aus dem Untergrund auftauchte und zu einer Hochbahn wurde.
Teile des alten Industriekomplexes sahen aus, als wären sie der Schauplatz eines Krieges gewesen. Überall zerschlagene Scheiben, aber waren da, zwischen den Gebäuden, nicht zwei Lampen entzündet worden?
***
Aus einem der Gebäude hörte er Musik – nein, Rhythmen. Eine Tür ging auf, und eine Frau taumelte heraus. Ihre linke Hand hatte sich mit überraschender Kraft um das Eisengeländer gelegt, andernfalls wäre sie die vier Stufen nach unten gestürzt. Sie lachte. Das charakteristische Drogen-Lachen. Kokain,
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