Der Schlaf und der Tod: Thriller (German Edition)
gefolgt von einem mindestens ebenso vorhersehbaren Nachspiel: Klagen über das brutale Vorgehen der Polizei und das Festhalten der Betroffenen auf Basis äußerst dürftiger juristischer Grundlagen. Leon war vermutlich der Polizist des Landes, der die meisten Klagen auf seinem Tisch liegen hatte, wobei er diese Sachen vermutlich als unausweichlichen Bestandteil seiner Arbeit betrachtete. Wenn nicht sogar als Ehrenbekundung.
Niels ließ seinen Blick über das brachliegende Industriegelände schweifen. Eine kollabierte Welt. Vor einer der Fabrikruinen hatte jemand ein Lagerfeuer gemacht. Die Züge, die oben auf der Metro trasse vorbeifuhren, schenkten der Szenerie für einen kurzen Moment ihr Licht: Ein paar junge Menschen lagen im Gras um das Feuer herum und schliefen. Dicht an der Mauer stand ein Zelt. Von irgendwoher war das Bellen eines Hundes zu hören, das sich in die Technorhythmen mischte. Dann war der Zug weg und mit ihm auch das Licht.
»Du hast Giselle gekannt?«
Niels hatte nicht gehört, dass die Tür hinter ihm aufgegangen war. Er drehte sich um. Sie stand nur wenige Zentimeter hinter ihm. Eine dünne kleine Frau, etwa Ende zwanzig, mit kurz geschnittenen Haaren. Sie reichte ihm gerade einmal bis an die Brust.
»Ja, das habe ich.«
»Woher?«
»Sie hat mir geholfen. Nach einem Unfall.«
»Was für ein Unfall?«
»Mit dem Auto.«
»Davon hat sie mir nie erzählt.«
Niels sah zu Boden. Hatte keine Ahnung, was er sagen sollte. Er schüttelte den Kopf.
»Nein, sie war loyal.«
Sie wiederholte: »Loyal?«
»Ich hatte einen Job, bei dem niemand erfahren durfte, dass ich …«
»Und das war?«
»Was das für ein Job war?«
»Ja.«
»Giselle hat mir versprochen, dass hier niemand danach fragen würde«, sagte Niels leise.
Sie lächelte: »Erzähl mir von dem Unfall.«
»Es war ein Autounfall.«
Sie fiel ihm ins Wort: »Hast du am Steuer gesessen?«
»Nein, ich wurde angefahren.«
»Erzähl.«
»Das war auf einem Bahnübergang. Der Fahrer des anderen Wagens hatte den Zug nicht kommen sehen. Das Auto wurde erfasst und …«
»… hat dann dich erfasst?«
»Ja.«
Er hörte sie tief einatmen. Dann trat sie einen Schritt zurück und ging wieder hinein. Niels folgte ihr. Die Tür wurde hinter ihm geschlossen, und wieder gab es nur das Licht der Kerzen.
»Darf ich sehen?«
»Was sehen?«
»Deine Narben.«
Niels zögerte. Das Letzte, was er wollte, war, halb nackt hier her umzustehen. Noch war es nicht zu spät, um kehrtzumachen. Es musste doch andere Möglichkeiten geben, diesen Fall aufzu klären.
Dann springe ich auch, Dicte . Dann springe ich auch .
Er dachte daran, wie sie nackt und weiß vor ihm gestanden und dann in den Tod verschwunden war. Und ohne zu wissen, warum, dachte er auch an Hannah, als er das Hemd über den Kopf zog und sich umdrehte, sodass die Frau einen Blick auf seinen Rücken werfen konnte. Der Mann von vorher trat mit einer Kerze in der Hand näher. Niels spürte die Wärme der Flamme. Und ihre Finger auf seinem Rücken. Ein paar Augenblicke lang folgten sie seinen Narben vom Schulterblatt über den Rücken, wo er aufgerissen und wieder zusammengenäht worden war.
»Und vorne?«
Er drehte sich um, und sie studierte die Narbe auf seiner Brust. Gierig, als würde sie das richtig genießen. Wieder liebkosten ihre Finger die Bahn der Stiche. Spürte er Lust? Lust auf sie?
»Du bist es nicht gewohnt, berührt zu werden«, flüsterte sie.
»Nein.«
»In den alten Schmerzen stecken viele Spannungen. Der Körper erinnert sich.«
Sie nahm die Hand weg. Vielleicht war das das Codewort, denn auf einmal fühlte Niels sich akzeptiert.
»Normalerweise legen wir hier unsere ganze Kleidung ab«, flüsterte sie und fuhr dann fort: »Aber da du das erste Mal hier bist, nehmen wir dich zuerst mit nach unten zu den anderen. Ist das okay für dich?«
»Ja.«
»Ich bin Schnee«, sagte sie. »Was ist dein Material?«
»Das …« Niels dachte nach. Er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte.
»Du musst dich noch nicht entscheiden. Lass das Material zu dir kommen. Ich habe nur gefragt, weil ich dachte, du hättest es vielleicht bereits gefunden.«
»Nein.«
»Okay, lass uns gehen.«
Der Mann hinter ihr öffnete eine Schiebetür. Er hörte, wie die Räder über Führungsschienen gezogen wurden, es klang wie eine alte Eisenbahn, Metall auf Metall.
»Gib mir deine Hand«, flüsterte sie. »Bist du nervös?«
»Ja.«
»Es passiert nichts Schlimmes. Nur gute Sachen. Vertraust
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