Der Schlaf und der Tod: Thriller (German Edition)
Fabrikgebäude gegangen war, oder warum er einfach zurück in dieses andere Gebäude gegangen war, um sein Hemd und seine Schuhe zu holen, statt den Raum abzusperren und auf weitere Spuren untersuchen zu lassen. Nein. Da sprang er schon lieber ins Hafenbecken. Wobei auch das Blödsinn war. Dann kam ihm die Königliche Bibliothek in den Sinn. Dort gab es Strom. Niels blickte in Richtung Kai, die Hafenbusse legten unweit der Bibliothek an. Und im Lesesaal gab es Anschlüsse für die Computer der Studenten. Gute Idee, das sollte machbar sein. Niels ging am Wasser entlang, als er eine SMS von Hannah erhielt. Können wir uns später treffen? Möchte gerne mit dir reden .
Reden? Scheiden. Eigentlich gibt es nichts zu reden, wenn man sich trennen will, dachte Niels. Es war das Gleiche wie bei Kathrine. Sie redeten und redeten, und schließlich hatten sie sich in eine Ecke geredet, in der Worte keine Bedeutung mehr hatten, in der es keine Worte mehr gab. Irgendwie auf der anderen Seite der Worte, wobei das Wort »Erklärung« die ganze Zeit undefinierbar über ihnen geschwebt hatte. Als bräuchte das Naturgesetz, dass die Liebe irgendwann aufhört, eine große, glänzende Erklärung. Was wollte sie sagen? Welche sinnlose Erklärung würde sie zufriedenstellen? Dass er nicht aufräumte? Zu viel trank? Dass sie zu wenig Sex hatten? Zu schlechten Sex? Zu wenig Gespräche? Zu viel Gespräche über die falschen Themen? Zu viel und zu wenig. Vielleicht war das die beste Erklärung von allen. Zu viel und zu wenig .
Niels blickte auf. Während sein Hirn den Scheidungsdialog durchgespielt hatte, war er vor dem Eingang der Königlichen Bib liothek angekommen. Er überlegte, Hannah zu antworten. Ihr zu schreiben: Zu viel und zu wenig. Ich hole meine Sachen, wenn du nicht zu Hause bist .Stattdessen ging er hinein. Stand wie ein Zombie da und ließ sich von der Rolltreppe in die erste Etage befördern. Dann ging er über die Brücke, die die neue Bibliothek aus Glas und Stahl mit dem alten Bau aus Ziegeln und Holz verband. Das neue Gebäude gefiel Niels besser. Es war durch sichtiger. Bot weniger Möglichkeiten, sich zu verstecken. Weniger Möglichkeiten für Verbotenes. Er fühlte sich müde, fertig, als Mensch wie als Polizist. Er war nicht mehr der Mann, der über die Bevölkerung wachen konnte, schloss er, als er in den Lesesaal trat. Wenn man sich als Polizist mehr Überwachung und weniger Freiheit für die Bevölkerung wünschte, mehr Häuser aus Glas und weniger Gardinen, war es vielleicht an der Zeit, seine Sachen zu packen. Dann mussten andere übernehmen.
Als er die Kamera in die Steckdose steckte, reagierte sie mit einem leisen Piepen – wie ein Kardiogramm. Es gab also Leben.
»Entschuldigen Sie bitte?«
Niels sah auf. Eine Bibliothekarin war höflich auf Abstand geblieben, konnte ihre verbissene Müdigkeit aber nicht verbergen.
»Das ist hier ein Lesesaal, Ihre Kamera müssen Sie woanders aufladen.«
»Polizeiarbeit. Lassen Sie mich bitte in Ruhe.«
Wenn sie darum bat, seinen Ausweis sehen zu dürfen, würde er sie festnehmen und in Handschellen legen, diese blöde Kuh! Alle, Hannah inklusive, allen voran Hannah. Nein, erst die hier und dann Hannah. Und dann alle Hannahs der Welt, die ihn nervten. Hatte er etwas im Auge? Oder warum lief ihm all das Wasser über die Wangen? Aus beiden Augen? Er wischte sein Gesicht mit einem Taschentuch ab und schloss die Augen für ein paar Sekunden.
Reiß dich zusammen, Bentzon. Du bist müde.
Als er die Augen wieder öffnete, standen drei Bibliothekare in einer Ecke mit einem Wachmann zusammen. Sie redeten leise und sahen dabei zu Niels herüber. Dann kam der Wachmann, ein mit Steroiden vollgepumpter Muskelprotz, auf ihn zu. Niels konnte Wachmänner nicht ausstehen. Schon gar nicht jetzt. Aber im Moment konnte er niemanden ausstehen. Er warf einen Blick auf die Kamera und spulte lärmend zurück.
»Können Sie sich ausweisen?«, fragte der Wachmann leise. Niels zeigte seinen Polizeiausweis, ohne aufzublicken. Der Wachmann bedankte sich und ging zurück. Gleich darauf löste sich auch die Versammlung der Bibliothekare auf, und das Band war zurückgespult. Hier endet also die Geschichte, dachte Niels und drückte auf »Play«.
7.
Islands Brygge, 10.05 Uhr
Hannah stand auf und sah über das Wasser – wenn sie dort überhaupt etwas sah. Sie dachte an Sokrates. An die fehlende Seite. Was stand darauf? Aber eigentlich spielte das gar keine Rolle mehr: Schließlich akzeptierte sie
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