Der Schlaf und der Tod: Thriller (German Edition)
ungerecht hart bestraft worden, wenn das an die Öffentlichkeit gekommen wäre. Aber tun Sie nicht so naiv, Niels, Hans Henrik ist nicht so.«
»Das Problem war nur, dass Dicte …«
Sommersted fiel ihm ins Wort: »Das Problem ist, dass unsere Gesetze manchmal nicht taugen. In den meisten Fällen passen sie. Aber in Hans Henrik van Hauens Fall? Stellen wir uns mal vor, die Sache wäre ihren üblichen Gang gegangen: Er war betrunken, das stimmt. Er streitet sich mit seiner Tochter. Wer tut das nicht mitunter. Er gibt ihr eine Ohrfeige, zugegeben, vielleicht etwas kräftiger, und sie stürzt und schlägt un glücklich mit dem Kopf auf. Ein Lungenflügel fällt zusammen. Ihr Herz setzt aus, und sie wird wiederbelebt. Was hätte das Gericht gesagt?«
»Das wissen wir nicht. Wir haben ihre Version nicht gehört.«
»Aber ich weiß es!« Sommersted konnte seine Wut nicht zurückhalten. »Hans Henrik wäre zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden, möglicherweise auf Bewährung, und das Gericht hätte entschieden, dass jemand vom Jugendamt regelmäßig nach dem Kind sieht.«
»Und das haben stattdessen Sie gemacht? Sie besucht?«
»Die Welt ist nicht schwarz-weiß, Niels. Es gibt Nuancen. Und diese Familie wäre von der Presse geschlachtet worden …«
»Dann haben wir ein Gesetz für gewöhnliche Menschen und eines für die, über die die Zeitungen schreiben?«
»Ja, Bentzon, so ist es. Und das Gesetz für die Menschen, über die die Zeitungen schreiben, ist strenger, härter und zerstörerischer als die sonst übliche Praxis.«
Sommersted seufzte und setzte sich auf die Tischkante. Er sah zu Boden.
»Das Problem ist Dicte«, sagte Niels schließlich.
»Ja.«
»Dass ihr Fall nie verhandelt wurde. Dass das, was passiert ist … in gewisser Weise nie geschehen ist. Sie muss das so erlebt haben. Als wäre das nie passiert.«
Sommersted nickte. Er war selbst zu der gleichen Schlussfolgerung gekommen. Vielleicht erst jetzt. Vielleicht schon vor längerer Zeit. »Ist sie deshalb gesprungen?«, fragte er.
»Nein, aber es hatte etwas mit ihrem Nahtoderlebnis zu tun.«
Er sah Niels überrascht an. »In den Minuten, in denen sie weg war, meinen Sie?«
»Sie hat damals etwas gesehen. Etwas anderes . Und das, was sie gesehen hat, hat sie für den Rest ihres Lebens heimgesucht«, sagte Niels und kam ins Stocken. Der Fall war abgeschlossen, er wollte nach Hause.
»Und was sucht Sie heim, Bentzon?«
In Sommersteds Stimme war eine überraschende Wärme, vielleicht sogar Mitgefühl, das aber so schnell wieder weg war, dass Niels schon daran zweifelte, richtig gehört zu haben. »Darauf müssen Sie mir noch eine Antwort geben: Was zum Henker bringt Sie dazu, auf eine Brücke zu klettern und damit zu drohen, in den Tod zu springen?«
Niels dachte nach. Das war eine berechtigte Frage. Er sah Leon, der draußen vor der Glastür wartete. Er würde den Rest der Woche dort draußen warten, ohne sich zu beschweren, sollte das von ihm verlangt werden. Worauf wartete Niels? Warum ging er nicht einfach? Er hatte an diesem Ort nichts verloren.
»Ich werde Vater«, sagte er und stand auf.
Sommersted nickte. Erleichtert. Denn jetzt hatte er einen Grund, das zu sagen, was er sagen wollte:
»Glückwunsch, Bentzon. Das überrascht mich, das muss ich schon sagen. Ich denke, es wäre eine gute Idee, wenn Sie Ihren Kinderurlaub – oder wie das heißt – schon jetzt nehmen, sozusagen als Vorschuss. Bei vielen Männern ist das in diesen Zeiten ja total populär.«
»Urlaub?«
»Meinen Sie nicht, dass das gut wäre? Damit Sie wieder ein bisschen zu sich finden, wieder die richtige Einstellung bekommen.«
Niels nickte. »Mag sein«, sagte er. »Abgemacht. Ab sofort, bei vollem Lohn?«
Sommersted lachte. »Voller Lohn?«
»Nennen wir es eine Überwachungsaufgabe«, sagte Niels.
»Überwachung? Und was wollen Sie überwachen, Bentzon?«
»Die da.«
Niels nickte in Richtung Tür. Sommersted sah Hannah hinter Leon stehen. Sie las konzentriert das interne Polizeimagazin, Dansk Politi. Sie sahen sie beide eine ganze Weile schweigend an. Dann brach Sommersted die Stille: »Okay, machen wir das so.«
15.
Islands Brygge, 19.15 Uhr
Nordsee.
Das Gefühl kam ihm, als Hannah sich im Bett bewegte. Sie hatte unter ihm gelegen, und er hatte sie geküsst und gespürt. Dann hatte sie die Position wechseln wollen, vielleicht nach oben. Und genau in dem Augenblick, in dem sie geschmeidig unter ihm wegschlüpfte und er sich auf dem Rücken auf
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