Der Schlaf und der Tod: Thriller (German Edition)
Elternhäusern: eine Welt aus Training, Disziplin und Körpern, die unglaubliche Dinge konnten. Er fing ihren Blick im Spiegel ein, ganz kurz, und sah Konzentration, einen unerschütterlichen Willen, Distanz.
»Sie sind der Polizist?«, fragte sie, noch ehe die letzten Takte der Musik verklungen waren. Der Pianist sammelte seine Noten zusammen und ging.
»Niels Bentzon.«
»Lea Katz. Sie wissen bestimmt schon, dass Dicte und ich uns gehasst haben, aber mit ihrem Tod habe ich nichts zu tun.«
Niels ließ sie einen Augenblick verschnaufen. Sie hatte ihre blonden Haare in einem Dutt zusammengefasst, sodass Niels freien Blick auf ein Gesicht hatte, das glatt wie eine Maske wirkte.
»Entschuldigen Sie, ich weiß, dass ich müde aussehe«, sagte sie. »Ich habe verdammt viel zu tun, seit Dicte nicht zu den Proben gekommen ist. Viel zu tun, im guten Sinne.« Sie lächelte. »Ich muss zur Massage, aber vielleicht können Sie mich auf dem Weg dorthin begleiten?«
Niels hätte es vorgezogen, vor ihr zu sitzen und ihr in die Augen zu sehen, es gab keine bessere Art, mit Menschen zu re den, aber er willigte ein, mit ihr zu gehen. Ihre Lebensgeschichte war schnell erzählt. Sie war das pure Gegenteil von Dicte. Gebo ren in Nykøbing. Aufgewachsen bei Pflegeeltern. Lea hat als Sechs jährige mit dem Tanzen angefangen und sich an der Ballettschule des Königlichen Theaters von ganz unten hochgearbeitet. Sie war froh über ihr Leben als Tänzerin, auch wenn es hart war und sie mit den Jahren mehr und mehr Probleme mit Verletzungen bekommen hatte. Sie blieb stehen, um sich zu dehnen. »Die hintere Oberschenkelmuskulatur«, erklärte sie. »Die macht schnell mal dicht.«
Niels versuchte, nicht zu gucken, aber vergeblich. Knackige Schenkel. Ruhige, elegante Bewegungen. Geschwungene Linien an Rücken und Hüften.
»Kein Problem, wir sind es gewohnt, betrachtet zu werden«, sagte sie, ohne Niels anzusehen. »Man muss lernen, es zu lieben, von den Menschen angestarrt zu werden. Verstehen, dass der Kör per nicht nur einem selbst gehört.«
»Dann kennen Sie Dicte schon von klein auf?«
Sie nickte. »Wir haben alles gemeinsam gemacht. Die Schule, das ganze verfluchte Auswahlverfahren.«
»Wann haben Sie sich entzweit?«
»Verstehen Sie mich nicht falsch«, sagte sie und sah zu Niels auf. »Ich finde es schrecklich, was mit ihr passiert ist, niemand verdient es, so zu sterben.«
»Aber Sie waren …«
»Ja, wir waren zerstritten, Feinde, wenn Sie so wollen. Aber Dicte hatte sich mit allen zerstritten. Es gab wirklich nur wenige, die sie mochten, und ich am allerwenigsten.«
»Warum?«
»Das ist eine lange Geschichte. Eigentlich waren wir richtig gute Freundinnen, bis wir vierzehn, fünfzehn Jahre alt wurden. Aber dann …«
Sie wechselte die Position. Spagat. Legte ihren Oberkörper einfach über ihr Bein. »Dann ist irgendetwas zwischen uns passiert.«
»Was?«
»Nichts Konkretes. Die Ansprüche sind einfach höher geworden. Menschen wurden ausgesondert. Dicte und ich waren beide unter den Besten. Und sie wurde immer merkwürdiger.«
»Wie meinen Sie das, merkwürdig?«
»Introvertiert. War sich selbst genug. Zu guter Letzt hat sie uns kaum noch eines Blickes gewürdigt. Ich glaube, sie hatte wirklich ernste Probleme.«
»Könnten Sie das ein bisschen vertiefen?«
»Also psychisch. Es gingen Dinge in ihr vor, die sie nur schwer kontrollieren konnte.«
»War sie depressiv?«
»In gewisser Weise. Und dann auch wieder nicht. Denn wenn sie tanzte, war sie – ja, fantastisch. Ich habe keine Probleme damit, das einzuräumen. Dann waren alle Probleme vergessen. Sie hatte eine wirklich seltene Gabe zu fokussieren. Die haben natürlich alle Tänzer, aber bei ihr war das extrem. In einem Augenblick saß sie da und sah aus wie jemand, der sich – entschuldigen Sie den Ausdruck – von der nächsten Brücke stürzen will, und nur Sekunden später stand sie auf der Bühne und begeisterte Tausende von Menschen. So eine Gabe ist nicht vielen Men schen vergönnt.«
»Sagt Ihnen NMSB etwas?«
»Da haben die anderen schon drüber geredet.« Sie nickte kurz. Dann war das andere Bein an der Reihe.
»Wissen Sie, was das bedeutet?«, fragte Niels. »Das war eine Verabredung, die sie heute hatte. Heute um …« Er sah auf seine Uhr. »… in zwei Stunden.«
»Ich habe nie etwas davon gehört.«
»Lassen Sie uns einen Moment etwas allgemeiner reden. Was halten Sie von der Stimmung hier drin?«
Sie zuckte mit den
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