Der Schlaf und der Tod: Thriller (German Edition)
Todes.«
»Eigentlich hätte ich doch ganz gern die Langversion. Um was geht es genau? Es muss doch eine Geschichte geben, einen Plot.«
»Ein Ballett ist kein Buch«, sagte sie. »Kein Film. Viele verste hen gerade diesen Aspekt nicht. Gewisse Teile der Handlung werden den Choreografen und Tänzern überlassen. Wenn nicht sogar den Zuschauern selbst. Also: Giselle ist eine Dreiecksgeschichte, die im Mittelalter im Rheinland spielt. Die junge Giselle verliebt sich Hals über Kopf in den Bauernsohn Loys und weiß nicht, dass dieser Bauernsohn in Wirklichkeit der Herzog Albrecht von Schlesien ist, der vor seiner Hochzeit mit der Fürstentochter Bathilde, mit der er verlobt ist, noch ein bisschen Spaß will. Inwieweit Albrecht zu diesem Zeitpunkt in Giselle verliebt ist, ist Auslegungssache, auf jeden Fall endet es damit, dass er zu Bathilde zurückgeht. Gleichzeitig verliebt sich der Verwalter Hilarion in Giselle, die aber nur Augen für Albrecht hat. Albrechts Spiel erweist sich aber als fatal für Giselle, die aus Enttäuschung und Trauer stirbt. Als Albrecht schließlich erkennt, dass es doch Giselle ist, die er liebt, ist es zu spät. Sie ist tot und verschwunden. Im nächsten Akt wird es dann etwas diffuser.«
»Was geschieht da?«
»Der Akt spielt in der Nacht an Giselles Grab. Geister – sogenannte Wilis – erheben sich aus ihren Gräbern und versuchen sich an Albrecht zu rächen. Die Wilis üben Vergeltung an den Männern, indem sie sie zu Tode tanzen. Giselle wird von den Toten aufgeweckt – ihr Geist jedenfalls –, und Albrecht bittet sie um Verzeihung. Giselle nimmt seine Hand, und gemeinsam tanzen sie, bis Giselle plötzlich wieder verschwindet.«
»Sie wird also von den Toten aufgeweckt?«
»Das kann man sagen, ja. Um dann schließlich wieder zu ster ben. Als Hilarion ankommt, wird er von den Wilis getötet, die Albrecht umringen. Die Königin der Geister, Myrtha, fällt ein Todesurteil über Albrecht und zwingt ihn zu tanzen.«
»Auch er soll zu Tode getanzt werden?«
»Aber Giselle kommt zurück und rettet ihn vor Myrtha. Als der Morgen graut, müssen die Wilis zurück in ihre Gräber. Albrecht hat Giselle sein Leben zu verdanken. Sie aber kann in ihr Grab zurückkehren und für immer in Frieden ruhen, weil sie der Versuchung, sich an Albrecht zu rächen, widerstanden hat. Sie hat ihm vergeben und ihn gerettet.«
»Und das ist das Ende? Keine anderen, die sich aus ihren Gräbern erheben?«
»Nee, dann kommt der Vorhang. Keine weiteren Auferstehun gen. Das verspreche ich.« Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. Das erste seit vielen Minuten. »Sind wir bald fertig?«
Sie waren da. »Masseur« stand an der Tür. Lea Katz öffnete sie und drehte sich um. »Sie hat übrigens selbst darum gebeten, dass dieses Stück gespielt wird.«
»Dicte selbst?«
»Ja, sie hat verlangt, Giselle im Programm aufzunehmen. Andernfalls hätte sie gekündigt.«
»Es muss ihr sehr viel bedeutet haben.«
»Ja.«
»Und der Ballettmeister hat das akzeptiert?«
»Offensichtlich«, sagte sie und wollte die Tür schließen.
»Noch eine letzte Frage für dieses Mal.«
»Ja?«
»Warum ist sie gesprungen?«
Sie dachte ein paar Sekunden nach. » Giselle hat sie in den Abgrund getrieben«, sagte sie dann.
»Wie meinen Sie das?«
»Waren Sie schon mal bei ihr zu Hause?«
33.
Bispebjerg-Klinik – Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie, 14.30 Uhr
»Sie ist heute nicht gerade in bester Form, vielleicht liegt das an der Wärme«, sagt die Schwester.
Und ich höre den Polizisten antworten:
»Glauben Sie, dass es besser ist, wenn ich morgen noch mal wiederkomme?«
»Dauert es lang?«
»Nein, sie soll sich nur kurz etwas anschauen.«
»Schon wieder Bilder?«
»Zehn Minuten, länger dauert es bestimmt nicht.«
»Silke?«
Ich drehe den Kopf.
»Silke, der Kommissar ist hier«, sagt die Schwester, kommt zu mir, setzt sich vor mich und versucht, Augenkontakt mit mir zu bekommen. »Ein Mann von der Polizei möchte mit dir sprechen.«
Sie redet so, als hätte ich diesen Mann noch nie gesehen. Dabei war er schon oft hier, phasenweise wöchentlich, und auch wenn das letzte Mal jetzt einen Monat her ist, erinnere ich mich gut an ihn. Was denkt sie eigentlich von mir? Andererseits ist das natürlich so, weil ich nicht rede. Immer wird mir alles wie beim ersten Mal erklärt. Ob es nun um das Essen oder um Menschen geht – alle Begegnungen sind jungfräulich.
»Es geht nur um ein paar Bilder. Genauer gesagt,
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