Der Schlaf und der Tod: Thriller (German Edition)
eingehen, sich am Tag nach einem Mord mit seinem Dealer zu treffen? Das tat man doch nur, wenn man einen weiteren Mord plante? Niels rief im Theater an. Er musste Frederik Have sprechen. Rache .
Sie sind Nummer fünf in der Warteschleife .
Ein Drang nach Rache erfüllte Niels. Aber wessen Rache war das? Dictes? Oder war das persönlicher? Dürstete es ihn so nach Rache, weil er jemanden verloren hatte? Zum ersten Mal. Alle anderen hatte er davon abbringen können, sich etwas anzutun. Nur Dicte nicht. Und jetzt folgte die Abrechnung. Niels stellte sich vor, dass er Dictes Mörder durchnässt und mit Tang in den Haaren auf das Dach des Theaters schleppte, hoch über dem Kongens Nytorv. Den Mann, der sie ertränkt und wiederbelebt und ihre rationalen Gedanken kurzgeschlossen hatte. Niels fantasierte davon, ihn in die Tiefe zu stürzen. Was würde er ihm nachrufen? Dass Niels Bentzon niemanden verlor? Ging es ihm womöglich nur um seinen verletzten Stolz und nicht um die Jagd nach Gerechtigkeit? Nein. Es ging darum, einen weiteren Mord zu verhindern, schloss Niels. Die richtige Schlussfolgerung. Die, die ihn in ein gutes Licht rückte.
Er nutzte die Zeit im Taxi für zwei Dinge: Er wartete in der Telefonschleife des Theaters – Sie sind Nummer fünf in der Warte schleife –, um den Ballettmeister zu sprechen, und er las in dem Buch, das bei Dicte gelegen hatte. Phaidon . Zuerst sah er nur die Worte, die sie unterstrichen hatte. Das Buch handelte vom Tod. Alles an dieser Frau handelte vom Tod, dachte Niels. Das Ballett Giselle . Auch darin ging es um eine Frau, die erst starb und dann wiederauferstand. Wie Dicte selbst – Adrenalin und Amiodaron. Die Abdrücke des Defibrillators. Und all ihre Bücher über den Tod und das, was danach kam.
Sie sind Nummer vier in der Warteschleife .
Niels spürte seine Verärgerung. Mit jedem Augenblick, den er vergeudete, stiegen die Chancen des Mörders, sich zu verstecken, seine Sachen wegzuschmeißen und alle Spuren zu beseitigen.
Sie sind Nummer drei in der Warteschleife .
»Können Sie die Busspur nehmen?«, fragte Niels.
»Haben Sie es so eilig?«
Niels zeigte dem Taxifahrer seinen Polizeiausweis. Ja, er hatte es eilig. In wenigen Minuten musste er Dictes Mörder von den Brettern der Bühne ziehen und auf ein ganz anderes Podium stellen. Ein Podium mit Staatsanwalt und Richter. Und mit der Aussicht auf eine lebenslange Haftstrafe.
Der Fahrer zuckte mit den Schultern und zeigte auf die Busspur, auf der der Verkehr ebenso langsam vorwärtskam wie auf der Spur, auf der er sich befand. Kopenhagen hatte frei, und alle schienen aus der Stadt zu wollen.
Sie sind Nummer zwei in der Warteschleife .
Niels versuchte weiterzulesen, konnte sich aber kaum konzentrieren. Ein neuer Gedanke: Ging es nur darum, das Versprechen zu halten, das er Dicte gegeben hatte? Vielleicht. Nur dass dies seine Art war, ihr hinterherzuspringen: Er musste die Umstände ihres Todes klären und den Mörder finden.
Niels las. Sokrates spricht mit seinen Schülern über die Schönheit. Dicte hatte den ganzen Abschnitt unterstrichen. Er las weiter, verstand aber nicht viel. Oder wollte er das nicht verstehen? Vielleicht. Es ging um das angeborene Schönheitsideal, von dem auch Henrik Vartov gesprochen hatte. Um die Tatsache, dass wir die Schönheit erkennen. Egal, wo auf der Welt wir sind, egal, wer wir sind oder in welcher Zeit wir leben, erkennen wir Schönheit. Und wie soll das gehen, wenn das Gefühl dafür nicht angeboren ist? Aber wenn es angeboren war, wo steckte es dann? Und wie war es dann mit der Gerechtigkeit? War die dann am gleichen Ort?
Blödsinn.
Sie sind Numme zwei in der Warteschleife .
Niels wusste, wer mit ihm in der Warteschleife hing. Das wa ren all die Journalisten, die Leute, die den Nektar ihres Lebens aus Tragödien wie dieser saugten. Sie würden Dicte noch ein paar Tage auf den Titelseiten halten, solange sie Geld damit verdienen konnten, private Details auszuplaudern.
»Sie werden verbunden«, sagte eine Stimme im Telefon.
Das Königliche Theater, 17.27 Uhr
War der Kongens Nytorv eigentlich jemals etwas anderes als eine Baustelle gewesen?, fragte Niels sich wütend und sprang aus dem Taxi, ohne auf die Quittung zu warten.
Wie abgesprochen, wartete der Ballettmeister schon auf ihn. Auf seinen Lippen lag ein vorsichtiges Lächeln, und in seinen Augen war wieder Kampfgeist zu erkennen. Niels registrierte das sofort und spürte einen Anflug von Bewunderung für den Mann: Der
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