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Der Schlaf und der Tod: Thriller (German Edition)

Der Schlaf und der Tod: Thriller (German Edition)

Titel: Der Schlaf und der Tod: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A. J. Kazinski
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aus, als wäre sie vollkommen nackt. Als wäre der sandfarbene Brautschleier durchsichtig. Ihre Brüste berührten den Stoff – oder umgekehrt. Die Musik wurde noch lauter. Beinahe wütend, und Giselle verschwand wieder. Wie ein Geist. Der Tänzer hastete kreuz und quer über die Bühne, erschrocken, erregt, und verschwand dann auch hinter den Kulissen.
    »Früher hörte man immer die Ratten fiepen, bevor der Vorhang nach oben ging. Es wimmelte hier von Ratten, weil die Kanäle, die hier ringsherum verlaufen, voller …«
    Niels drehte sich um, sah den Alten an, der eine Kunstpause machte und dabei Niels’ Blick festhielt: »… Exkremente waren.« Der Alte lächelte spitzbübisch. Ein Junge, der nie aufhören wollte, frech zu sein. »Sind Sie der Polizist?«, fragte er.
    »Und Sie?«
    »Ich unterrichte hier mitunter«, sagte er betont locker.
    Dicker weißer Nebel waberte über den Boden der Bühne. Die Violinen spielten noch immer. Pulsierend. Als zögen sie den weißen Nebel über die Bühne. In der ersten Reihe wurde geflüstert. Niels hörte die Stimme des Ballettmeisters.
    »Kannten Sie sie?«, fragte Niels.
    »Natürlich«, antwortete der Alte. »Dicte war einzigartig. Nicht so wie die anderen. Ihr Tod ist ein Riesenverlust für das Ballett.«
    »Wie meinen Sie das, nicht wie die anderen?«
    Er zuckte mit den Schultern. »Viele wollen einfach nur auf die Bühne. Ihren Mädchentraum ausleben. Das sieht man bei jedem Vorhang.«
    »Vorhang?«
    Er sah Niels nachsichtig an: »Wenn das Publikum klatscht und sie zurück auf die Bühne fordert. Wenn man denn dieses Glück hat.«
    »Und was kann man sehen, wenn das Publikum klatscht?«
    Er beugte sich etwas weiter zu Niels vor. »Die Brustwarzen der Mädchen.«
    Niels sah zu Boden.
    »Die werden hart. Verstehen Sie?«
    Niels nickte und überlegte, sich einen anderen Platz zu suchen. In der ersten Reihe war es still geworden.
    Der Alte flüsterte. »Sie werden geil, bei jedem Applaus.«
    »Und Dicte war da anders?«
    »Dicte hätte auch ohne Publikum getanzt. Das war es, was sie so sublim machte, so über alle erhaben.«
    Niels blickte zur Bühne. Aus dem Nebel, der fast am Boden klebte, erhoben sich die Körper von Frauen. Erst nur Arme, dann folgten die Körper, wie Wesen aus dem Rauch.
    »Das muss zu Neid führen.«
    Er lächelte: »Sie wollen wissen, wer sie umgebracht hat, bevor sie sprang?«
    Niels sah ihn überrascht an.
    Der Alte zuckte mit den Schultern. »Hier drinnen gibt es keine Geheimnisse«, sagte er und fügte hinzu: »Oder nur Geheimnisse, ganz wie Sie wollen.« Dann flüsterte er Niels ins Ohr: »Es ist schon erschreckend, wie sehr das Libretto dem ähnelt, was Dicte zugestoßen ist.«
    Niels unterbrach ihn: »Das Libretto?«
    »Die Geschichte, die Handlung!«
    »Was ist damit?«
    » Giselle handelt von allem Gefährlichen. Von dem, was man verdrängt. Was man nicht will, nicht verstehen kann. Von Sexualität. Der Sexualität von Frauen. Den verborgenen Kräften in der weiblichen Natur. Kräfte, deren Stärke erschreckend und unkontrollierbar ist, gleichzeitig aber auch anziehend und voller Verlockungen. Giselle wurde erst 1946 ins Repertoire des Königlichen Theaters aufgenommen, unter anderem, weil August Bournonville das Stück nicht gefallen hat.«
    »Warum nicht?«
    »Er fand es nur krankhaft. Unmoralisch. Nehmen Sie nur die Wilis«, sagte er und zeigte zur Bühne. »Die Nachtwesen in den tiefen Wäldern. Sexuell frustrierte Jungfrauen, die gestorben sind, bevor sie ihre Unschuld verloren haben. Und Giselle stirbt an der Trauer …«
    Niels unterbrach ihn: »Giselle stirbt an der Trauer? Oder begeht Selbstmord. Und Dicte springt in den Tod.«
    »Genau.«
    »Sie wollen damit sagen, dass …«
    »Dass Dicte die Vorstellung mit zu sich nach Hause genommen hat.«
    »Um sie live auszuführen?«
    »Für die ganze Welt«, sagte er und blickte zu Boden.
    Niels war sich nicht sicher, wie viel er dem Alten erzählen sollte. Andererseits war dieser Mann sicher seit Jahrzehnten hier. Länger als jeder sonst. Und der Ballettmeister hatte das Ensemble ja selbst mit einem Kloster verglichen: einem Ort, an dem man die ganze Zeit zusammenlebte, ein Leben hinter Mauern, während man etwas anbetete, das größer als man selbst war. Niels beugte sich weiter zu dem Mann vor. Jetzt flüsterten sie.
    »Der Bildhauer Thorvaldsen sinkt hier an diesem Ort tot zusammen.«
    Der Alte blickte auf. Verwundert. Niels fuhr fort: »Dicte hatte eine Postkarte von Thorvaldsens

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