Der Schlaf und der Tod: Thriller (German Edition)
fürchterliche Tag und all die demütigenden Gespräche mit dem Direktor hatten ihn nicht gebrochen. Niels begleitete ihn nach drinnen.
»Die Probe ist im vollen Gang.«
»Haben Sie Ihr gesamtes …« Niels suchte nach dem richtigen Wort. »… Ensemble versammelt?«
»Woran denken Sie?«
Niels sah sich auf dem Flur um. Er wollte sichergehen, dass niemand sie hörte. Die Dinge normalisierten sich langsam wieder. Weniger Tränen, weniger leere Blicke, mehr Konzentration. Niemand ist unersetzbar, dachte Niels. Das Leben geht weiter.
»Ich meine, ob alle da sind. Auf jeden Fall die Tänzer.«
»Sie sind da, ja. Auf der Bühne. Oder hinter der Kulisse«, sagte der Ballettmeister. »Können wir uns beeilen?«
»Wir müssen leider die erste Übung noch einmal wiederholen und alle auf der Bühne versammeln, damit ich mit ihnen reden kann.«
»Morgen früh wäre dafür ein guter Zeitpunkt.«
»Jetzt.«
»Aber wir sind mitten in der Probe.«
»Unterbrechen Sie die.«
»Ich glaube, Sie verstehen nicht. Das ist die Generalprobe. Sie läuft schon.«
46.
Islands Brygge, 17.30 Uhr
Die Vertreterin der Anklage setzte sich. Gegen wen hatte ihre Anklage sich eigentlich gerichtet? Gegen die Stimmen in ihr, die das Recht des Lebens forderten? Oder hatte sie alle angeklagt, die ihren toten Sohn vergessen hatten? Alle, die glaubten, sich auf die Schmerzen anderer zu verstehen?
Hannah lehnte sich auf dem Sofa zurück und schloss für einen Moment die Augen. Dann hörte sie eine andere Stimme in ihrem Kopf: Möchte die Verteidigung dazu etwas sagen?
»Ja«, sagte Hannah laut und öffnete die Augen. Vor ihr lag das leere Wohnzimmer. Sie hatte Lust auf eine Zigarette oder ein Glas Wein. Oder beides. Aber das musste warten.
»Also«, sagte sie. »Verehrtes Gericht, verehrte Geschworene. Erlauben Sie mir, Sie an den Ernst der Sache zu erinnern. Es geht in diesem Verfahren um das Leben. Um das Recht auf Leben. Und es geht um die Frage, wo der Ursprung des Lebens liegt. Nein, lassen Sie es mich auf eine andere Weise sagen: Sind wir es, die uns für Kinder entscheiden? Oder sind es die Kinder, die sich uns auswählen? Wer kann diese Frage mit Sicherheit beantworten? Wer kann sagen, wo das Leben herkommt?«
Hannah bemerkte, dass sie aufgestanden war. Oder stand sie schon die ganze Zeit? In ihrem Kopf surrte es. Fast hörte sie, wie ihr Hirn auf Hochtouren arbeitete. Ein Motor kurz vor dem Durchbrennen. Sie fuhr fort: »Und es geht um uns Menschen, die wir uns das Recht herausnehmen, über Leben und Tod zu ent scheiden. Denken Sie an unsere Beziehung zum Tod. Den Tod lassen wir in Ruhe. Da mischen wir uns nicht ein. Der kommt von selbst, liegt in den Händen höherer Mächte, je nachdem, wor an man glaubt. Egal wie leidvoll das Leben ist, bringen wir den Tod nicht hervor. Er kommt, wenn er kommt. Aber wie ist das mit dem Leben? Warum sollten wir das anders behandeln? Das Leben kommt, wenn es kommen will. Sollten wir nicht auch dazu Ja sagen? Statt es im Keim zu ersticken?«
Stille im Saal. Die Zuhörer hielten die Luft an und lauschten den Argumenten der Verteidigung.
»Zwölf Wochen, sagen wir. Zwölf Wochen lang haben wir das Recht zu töten. Diese Aussage ist himmelschreiend paradoxal. Wer nimmt sich das Recht, zu behaupten, dass diese Grenze wirklich Sinn macht? Eine Grenze, die zu allen möglichen an deren Zeitpunkten gesetzt hätte werden können und die von irgendwelchen Politikern festgelegt worden ist. Was wissen diese Menschen über die Entstehung des Lebens? Das Wichtigste ist aber die Frage selbst: Wer kann sagen, welches Leben sinnvoll ist und welches nicht? Wie ein sinnvolles Leben aussieht? Wenn wir Menschen mit psychischen Leiden das Recht aufLeben verwehren – was ist dann mit Menschen mit physischen Gebrechen? Mit Säuglingen mit kleinen Missbildungen? Sollen wir denen auch das Leben verwehren? Letzten Endes geht es dabei doch um Normalität. Was ist das Normale? Wer wagt das zu definieren? Vielleicht ist es sogar normal, dass man das Leben leid ist? Keiner von uns geht doch immer gut gelaunt durch das Leben! Viele der größten Philosophen unserer Welt haben das Leben gehasst. Kant. Schopenhauer. Für sie war das Leben die Hölle. Der Tod eine Befreiung. Hätten sie niemals leben sollen?«
Hannah lief durch das Wohnzimmer. In kleinen Kreisen. Sie blickte aus dem Fenster, sah aber nichts. Vor ihren Augen war nur der Gerichtssaal.
Der Richter starrte sie an und gab ihr zu verstehen, dass die Zeit knapp war.
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