Der Schlaf und der Tod: Thriller (German Edition)
konnte es keinen Ausweg geben. Dann entdeckte er noch eine Treppe mit rostigen Stufen, blickte auf seine Füße und konzentrierte sich darauf, nicht den Halt zu verlieren. Niels schaffte es gerade noch auf den nächsten Treppenabsatz, als er von einem harten Schlag ins Gesicht getroffen wurde. Dieses Mal mit einem Gegenstand.
»Stehen bleiben!«
Und noch einmal wurde er getroffen. Noch einmal? Er stürzte, schwebte frei durch die Luft, schwer. Er hörte das Geräusch nicht, als er auf dem Boden aufschlug. Aber er hörte die Tür, die geöffnet wurde, und er hörte die Person, die durch diese Tür verschwand.
51.
Bispebjerg-Klinik – Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie, 21.15 Uhr
Die Stille sendet ein Geräusch aus, das ich nicht in Worte fassen kann. Es kommt draußen vom Gang, glaube ich, wie ein leises Summen. Vielleicht irgendein eingeschaltetes Gerät? Ein Fernse her? Oder gibt es dieses Geräusch nur in meinem Kopf? Ich richte mich im Bett auf. Bin ich davon wach geworden? Habe ich überhaupt schon geschlafen? Ich schalte die Lampe am Bett an. Bleibe noch einen Moment liegen, dann stehe ich auf. Die Bilder liegen auf dem Tisch. Ich habe sie nicht angefasst, seit der Beamte gegangen ist. Fünf Gesichter. Fünf Männer.
Wer ist der Schuldige?
Hat einer von denen meine Mutter umgebracht? Vielleicht. Es ist möglich. Welchen dieser Männer könnte ich mir mit einem Messer in der Hand vorstellen? Den jungen? Nein. Das passt für mich nicht zusammen. Der, der wie ein Bankangestellter aussieht? Vielleicht. Sein Gesicht strahlt so eine Kälte aus. Zynismus. Möglich . Ich schließe die Augen. Es ist nicht mehr nötig, die Bilder anzuschauen. Die Gesichter haben sich längst in mein Hirn eingeprägt. Jetzt sehe ich auch Mutter. Meine hübsche, tote Mut ter. Jetzt ist sie nicht tot. Sie steht quicklebendig im Wohnzimmer und streitet sich mit dem Banker. Sagt, dass das alles nur ein Missverständnis gewesen sei. Dass sie einen fürchterlichen Fehler begangen habe und dass das jetzt endlich vorbei sein müsse. Er wird wütend. Verlangt von ihr, sich von Papa scheiden zu lassen und ihm endlich alles zu sagen. Aber Mutter weigert sich und will ihn rausschmeißen.
»Verschwinde!«, ruft sie. »Verschwinde!«
Ich stehe hinter der Tür und höre alles. Sie können mich nicht sehen. Aber ich blicke durch das Schlüsselloch und kriege ein paar Szenen mit.
»Du sollst verschwinden«, ruft meine Mutter wieder. »Ich will dich nicht mehr sehen.«
Aber er hört nicht auf sie. Stattdessen wird er noch wütender und stößt sie vor sich her, wieder und wieder. So grob, dass sie nach hinten taumelt und irgendwann zwischen die Stühle am Esstisch kippt. Einer fällt um, und eine Glasvase stürzt klirrend zu Boden und zerspringt in tausend Stücke. Mutter weint jetzt. Ich rüttele an der Tür. Moment, tue ich das wirklich? Vielleicht stehe ich auch nur ganz still da und lausche, während die Tränen über meine Wangen laufen, oder ich bin wieder ins Bett gegangen und ins Dunkel geflohen, habe mir die Decke über den Kopf gezogen.
»Lass das!«, ruft Mutter, als er plötzlich wieder da ist, mit einem Messer in der Hand. Woher kommt das? Wie kann er es bis in die Küche geschafft haben, ohne dass Mutter gemerkt hat, dass er weg ist? Warum ist sie nicht weggelaufen? Auf die Terrasse oder die Straße und hat um Hilfe gerufen?
»Nein«, sagt sie, als er mit dem Messer in der Hand auf sie zukommt. Langsam? Nein, er stürzt sich auf sie, packt sie, während sie noch am Boden liegt. Er ersticht sie nicht, er zerrt ihren Kopf brutal nach hinten, mit aller Kraft, entblößt ihren Hals und sticht das Messer direkt unter dem Ohr tief ein, bevor er ihr mit einer schnellen Bewegung den ganzen Hals aufschlitzt, Luft- und Speiseröhre durchtrennt, Muskeln und Venen, die Halsschlagader, und …
Mutter starrt ihn an. Versucht, etwas zu sagen, aber die Worte ertrinken in dem Pumpen des Blutes. Dann lässt er das Messer fallen und geht. Verschwindet aus dem Haus. Ich höre seine Schritte unten im Flur, bevor die Haustür ins Schloss fällt. Und ich schaffe es, die Tür meines Zimmers aufzubrechen. Sehe Mutter, die schreiend herumläuft. Sie hält sich den Hals, als wollte sie das Unabwendbare aufhalten. Ich sehe sie schließlich fallen, zur Ruhe kommen. Spüre eine seltsame Form der Erleichterung, als sie endlich still am Boden liegt. Sehe in ihre Augen. Ihr Blick wird starr. Das Leben entschwindet. Tränen laufen über meine Wangen und
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