Der Schlaf und der Tod: Thriller (German Edition)
schwerer Körper auf dem Bett, das Nachgeben der Federn. Wie spät war es? Sie war tete. Nur wenige Minuten. Dann hörte sie ihn schnarchen. Sie stand auf und ging zu ihm hinein. Nicht um sich neben ihn zu legen, sondern um ihn anzusehen. Warum? Es hatte etwas mit der Pille in ihrem Bauch zu tun. So viel wusste sie. Und in gewisser Weise reichte ihr das. Die Decke lag über seinem Kopf. Sie wollte schon wieder gehen, als ihr das Buch auffiel. Phaidon. Die berühmte Schrift über Sokrates’ letzte Stunden. Die Beweise des Philosophen über die Unsterblichkeit der Seele. War das für sie? Wusste er etwas? Hatte er mitbekommen, dass sie vor Gericht gestanden hatte? In einem Mordfall? Einem Prozess über die Hinrichtung zweier Leben. Mit ihr als Henkerin. Hatte er den Schwangerschaftstest im Mülleimer gefunden? Nein, sie hatte sich wirklich Mühe gegeben, ihn gründlich unter Kaffeesatz und Salatblättern zu verstecken. Eine Quittung aus der Apotheke? Nein, oder vielleicht doch? Bei Niels konnte man nie wissen. Vielleicht war das bei den meisten Polizisten ja so. Sie sahen et was, Kleinigkeiten, die man versteckt wähnte und unter Kontrolle zu haben glaubte. Warum hatte er das Buch sonst so demonstrativ auf das Nachtschränkchen gelegt? Phaidon . Natürlich kannte sie das. Geschrieben von Sokrates’ treuem Schüler Platon. Phai don war ein fester Bestandteil der Gruppe, die Sokrates vor ein paar Tausend Jahren durch Athen begleitet hatte. Hannah blätterte in dem Buch. Es erstaunte sie, wie frisch und modern der Text wirkte. Vermutlich weil das gesamte akademische System, in dem sie erzogen worden war, hier seinen Ursprung hatte. Sokrates, Platon, Aristoteles. Sie überflog den Text. Das war viele Jahre her. Im Gymnasium? Es ging um ein Gespräch in Sokrates’ Zelle. Er sollte hingerichtet werden. War zum Sündenbock für Athens verfehlten, katastrophalen Krieg gegen Sparta erklärt worden. Ein Krieg, gegen den nur er sich gewandt hatte. In der Zelle beruhigt er seine Schüler und nennt ihnen die vier Beweise für die Existenz der Seele.
Hannah blickte über die Schulter zu Niels. Er redete im Schlaf. Sie holte sich ein Päckchen Zigaretten, Streichhölzer, vier Teelichter und eine Decke und setzte sich zum Lesen auf den Balkon. Die vier Beweise dafür, dass unsere Seele ewig lebt – vorge legt von dem unbestritten klügsten Mann, der je auf Erden gewandelt war. Ein Mensch, wie er nur alle paar Tausend Jahre vorkommt, der die Menschheit dann aber ein gewaltiges Stück weiterbringt. In eine aufgeklärtere Richtung. Wie Einstein. Sie zündete sich an der abgebrannten eine neue Zigarette an. Und las. Schnell. Warum so schnell? Was wollte sie erreichen? Sie verschlang die Worte förmlich. Der Gedanke, dass alles ein Kreislauf war: über den Schlaf und den Tod. Der Schlaf, der vom Wachsein abgelöst wird, aus dem wieder Schlaf wird. Das Gute wird schlecht, das Schlechte wird gut. Das Große wird klein und kann nur wieder groß werden, weil es zuvor klein geworden war. So entsteht auch der Tod aus dem Leben – und umgekehrt.
Warum hatte Niels ihr dieses Buch hingelegt? Welche Art von Zeuge war Sokrates in Hannahs Verfahren? Sprach er sich für das Leben aus oder dafür, die Föten abzutreiben?
Sie las weiter. Schnell. Als wäre die Antwort auf ihre Probleme in diesem Buch zu finden. Der nächste Beweis dafür, dass unsere Seele ewig lebt: das Erinnern. Die Tatsache, dass Wissen etwas ist, an das man sich erinnert, und nicht etwas, das von außen kommt. Wie das Kuckuckskind Eskild Weiss gesagt hatte: wahre Erkenntnis. So wie sie es damals hatten und womit sie unsere ganze Welt verändert haben. Wobei sie gefühlt hatten, dass die Antworten die ganze Zeit über in ihnen gewesen waren. Antworten kamen nicht von außen und wuchsen auch nicht auf Bäumen. Sie wohnten in ihnen. Und wenn die Antworten in uns wohnen – wo kommen sie dann her?
Noch eine Zigarette. Hat er recht? Hat Sokrates recht? Ist es das, was man heute als Aha-Erlebnis bezeichnet? Ja, Hannah hatte massenhaft davon gehabt. Und ja. Es fühlte sich ganz richtig an – wenn man ehrlich sein sollte –, dass die Antwort von innen kam. Sie überlegte, ins Schlafzimmer zu gehen und Niels zu wecken. Was wollte er ihr mit diesem Buch sagen? Dass er auch das Recht hatte, gehört zu werden? Dass sie einen wichtigen Zeugen ausgegrenzt hatte? Den Vater der Kinder. War das Buch sein Argument in diesem Fall? Ja, das machte Sinn. So musste es sein. Aber wenn es so war,
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