Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur
Leben voller Drohungen in Hotels oder Obdachlosenheimen!«
»Sie haben schon recht, wenn Sie sagen: › Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. ‹ Ich folge diesem Wahlspruch nun schon einige Zeit, und er hat mir immerhin ein großes Stück Freiheit eingebracht! Ihr Vorschlag scheint mir interessant zu sein, und ich werde darüber nachdenken!«
Mein neuer Bekannter hieß Redwane und stammte ebenfalls aus Algerien. Er gab mir seine Handynummer und versprach, dass er mir helfen würde, soweit es in seiner Macht stünde. So kehrte ich dieses Mal in beinahe euphorischer Stimmung mit meinen Kindern ins Hotel zurück.
Ich schöpfte neue Hoffnung. Gott hatte mir im richtigen Augenblick einen Boten geschickt. Auch wenn ich noch keine Entscheidung getroffen hatte, erfüllte mich das seltsame Gefühl, dass die Zeit der Befreiung nun näher rückte.
Es war der 10. September 2001, der Vorabend des Attentats auf das World Trade Center.
Am Abend unterbreitete ich meinen beiden Töchtern die Idee auszuwandern.
Melissa reagierte sehr aufgebracht. Sie warf mir vor, dass ich weder an ihr Wohlbefinden noch an ihr Bedürfnis nach Stabilität dachte. Stattdessen wollte ich sie neuen Problemen aussetzen, deren Tragweite ich noch gar nicht ermessen konnte. Ich begriff, dass diese Reaktion Ausdruck ihres mangelnden Selbstvertrauens und ihrer Furcht vor Veränderungen war.
Norah dagegen war sogleich Feuer und Flamme für meinen Vorschlag.
»Wow! Ich habe schon lange davon geträumt, einmal nach Kanada zu gehen!«, rief sie aus. »Ich werde alles tun, damit wir unseren Plan verwirklichen können! Es wird sicher nicht einfach werden, aber vielleicht sind wir dort glücklicher als hier!«
»Freuen wir uns nicht zu früh. Erst einmal muss ich mich bei der kanadischen Botschaft wegen der Visa informieren. Jetzt schlafen wir erst einmal eine Nacht darüber. Morgen ist auch ein Tag.«
Das hatte ich so leicht dahingesagt. Am Nachmittag des nächsten Tages, dem 11. September 2001, waren die Zwillinge und Melissa noch in der Schule, und Zacharias war in der Krippe. Norah und ich saßen in einem kleinen Restaurant in der Nähe des Hotels, wo wir einen Kaffee tranken und über unser weiteres Vorgehen berieten. Wie groß war unsere Hoffnung, in Kanada willkommen geheißen zu werden!
Plötzlich ließ Norah ihre Tasse fallen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie auf den Fernseher, der in einer Ecke des Restaurants stand. Als ich das blanke Entsetzen in ihrem Gesicht sah, richtete ich meinen Blick ebenfalls auf den Bildschirm.
Wie auch die anderen Leute im Café brauchte ich ein paar Minuten, um zu begreifen, dass die Wirklichkeit jede Horrorvorstellung übertraf. Die Twin Towers in New York waren zerstört … Mit einem Mal wurde das Leben völlig unwirklich, unbegreiflich …
»Das ist ja fürchterlich, Mama! Warum tut jemand so etwas?«, schrie Norah und sprach damit aus, was alle dachten.
Ich war entsetzt und erschüttert, denn nun begriff ich, dass Extremismus und Terrorismus präsenter waren denn je! Wie weit würde diese Form menschlichen Wahnsinns noch gehen? Vor unseren Augen starben so viele Menschen, ohne dass jemand ihnen helfen konnte!
Plötzlich wurde mir klar, dass durch diesen Albtraum auch alle Türen zugeschlagen würden, die sich gerade voruns aufgetan hatten. Jetzt war es erst einmal unmöglich, ein Visum zu erhalten. Schon vor diesen schrecklichen Ereignissen wäre der Weg steinig gewesen, doch nun war er verschlossen. Sollte Gott dieses Mal nicht auf unserer Seite sein?
Unser Plan, nach Kanada auszuwandern, schien mir nun zum Scheitern verurteilt. Verstört und enttäuscht kehrten Norah und ich ins Hotel zurück, um den Rest der Familie zu empfangen. Das Leben ging weiter, aber jetzt fiel uns nichts mehr ein, wie wir unsere Lage verbessern konnten.
Norah hatte eine neue Arbeit gefunden. Sie langweilte sich im Hotel und wollte ihren Beitrag zu unserem Lebensunterhalt leisten. Mich dagegen hatte der Arzt für mehrere Wochen krankgeschrieben.
Eines Nachmittags sah ich bei McDonald’s den jungen Mann wieder, der mich auf die Idee gebracht hatte, nach Kanada zu gehen. Sogleich erzählte ich ihm von meinen geplatzten Hoffnungen.
»Der Anrufbeantworter der kanadischen Botschaft teilt nur mit, dass seit dem 11. September keine Visa an Ausländer erteilt werden – schon gar nicht, wenn sie arabischer Herkunft oder Muslime sind.«
»Hast du denn wirklich vor, nach drüben zu gehen?«
»Sicher, aber wie soll ich das
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