Der Schmerzsammler: Thriller (German Edition)
ein kräftiges Frühstück ja wie gerufen.«
Ihr Blick verschleierte sich. »Ach, ich habe keinen richtigen Hunger, ich habe gestern Abend so viel gegessen.«
Eine halbe Scheibe Brot hatte sie gegessen. Mit einer hauchdünnen Scheibe Salami darauf, keine Butter.
Lars schluckte. »Aber Mama, gestern Abend hast du fast nichts gegessen. Wenn du schnell wieder gesund werden willst, musst du anständig essen. Das hast du mir auch immer gesagt.« Er strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht und tupfte ihr ein paar Tränen aus den Augenwinkeln.
»Aber ich kann nichts essen …« Ihre Stimme versickerte in den Kissen, die Lars ihr in den Rücken gestopft hatte, damit sie ihn beim Sitzen nicht so belasten musste.
Lang ausstrecken, das war seit Monaten nicht mehr möglich. Zweimal am Tag kam eine Pflegerin, um sie zu waschen, den Beutel des künstlichen Darmausgangs zu wechseln und zu kontrollieren, ob sie wunde Stellen hatte.
Lars seufzte, stellte das Tablett auf den Nachttisch, aß sein Müsli, küsste seine Mutter zum Abschied auf die Stirn und machte sich auf den Weg zur Schule. Er nahm sich vor, heutealles brav und artig über sich ergehen zu lassen, egal, was die Lehrer auch von sich gaben. Selbst Frau Selm-Bödens geistigen Dünnschiss würde er ohne Murren ertragen.
Er schwang sich auf sein Fahrrad, warf noch einen Blick auf das hässliche graue Haus, in dem er und seine Mutter drei Zimmer bewohnten, seit der Mann, der sich als sein Vater bezeichnet hatte, nicht mehr da war. Sechs Stockwerke verblichene nichtssagende Fassade. Bis zur S-Bahnstation am Bilker Bahnhof brauchte er keine fünf Minuten.
Lars grüßte ein paar Klassenkameraden, die ihn verlegen angrinsten, ihm zuwinkten und den Daumen hoben. Seine Show gestern hatte sie tief beeindruckt, da war sich Lars sicher. Allesamt waren sie Feiglinge, die sich nicht trauten, das Maul aufzumachen. Die würden sogar dann den Schwanz einziehen, wenn ihre Freundinnen vergewaltigt würden. Abschaum, ungläubiges Pack, das sich wundern wird, wenn Luzifer auf die Erde zurückkehrt und die Gerechten von den Ungerechten trennt, dachte Lars. Bis dahin würde er sich gut mit ihnen stellen, denn er brauchte ihr Geld. Die Warmduscher zahlten nicht nur für ausgefallene Unterrichtsstunden, sie fuhren auch total auf die kleinen bunten Pillen ab, mit denen sie zwei Nächte durchfeiern konnten. Was für eine Verschwendung. Lars benutzte diese Drogen nur für magische Reisen und Rituale, die zwischen einer und zweiundsiebzig Stunden dauern konnten, je nachdem, welche magische Aufgabe zu lösen war. Seine erbärmlichen Kunden warfen das Zeug ein, um high zu sein, um der Realität zu entkommen, er, Lars, Amothep der Große, der Hohepriester der Church of XXXL , benutzte die Drogen, um Realität zu schaffen!
In den ersten beiden Stunden stand Mathematik bei Dr. Friedrich Meybaum, Lars’ Klassenlehrer, auf dem Stundenplan, sein Lieblingsfach. Integral- und Vektorrechnung, das war das pure Wort Luzifers. Mathematik log nicht, Mathematik galt im gesamten Universum, ohne Mathematik ging gar nichts. Luzifer war Mathematik, und Mathematik war Luzifer. Lars fieberte dem Abitur entgegen, denn dann hatte er nicht nur das Gelübde seiner Mutter gegenüber erfüllt. Er hatte ihr bei allem, was ihm heilig war, geschworen, das Abitur zu bestehen, und Meybaum versüßte ihm den Weg bis dahin. Lohn von höchster Stelle war seinem Mathelehrer dafür sicher: Meybaum war einer der wenigen Ungläubigen, die einst in Luzifers Palast Eingang finden würden, dafür würde Lars sorgen. Und bis zum Eintreffen Luzifers würde er Mathematik studieren, um die Verbindungen zwischen den Henochischen Schlüsseln und der Welt der Zahlen beweisen zu können.
Meybaum stand bereits vor dem Klassenraum. Als er Lars erkannte, kam er auf ihn zu.
»Morgen«, sagte er, und Lars gefiel sein Ton überhaupt nicht. Meybaum klang, als habe die ganze Klasse im letzten Test nicht eine Aufgabe gelöst. Das wäre für Meybaum eine Katastrophe gewesen, denn er war eines der seltenen Exemplare der Gattung Lehrer, die den Grund für ein Versagen seiner Schüler zuerst bei sich selbst suchten.
Meybaum nahm ihn am Arm und zog ihn zur Seite. Bei jedem anderen hätte er eine solche Respektlosigkeit mit einem anständigen Stüber bestraft. Niemand durfte ihn ungefragt anfassen – außer Meybaum.
»Sag mal, Lars«, Meybaum rieb sich die Nasenwurzel, »was ist denn da gestern los gewesen?«
»Was meinen Sie denn, Herr Dr.
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