Der Schneider himmlischer Hosen
Politik wissen will, ist Natascha. Sie hat sich in einen der Irredenti verliebt. Er stammt aus Susak und ist wohl mehr Slawe als Italiener. Er spricht serbisch, und sie können sich miteinander verständigen. Jedenfalls gehen sie zusammen spazieren, auf den Dünen oder den Fluß entlang, Arm in Arm.
Ich möchte dich so gern wiedersehen. Ich bin schrecklich einsam ohne Dich, und Du hast immer gesagt, daß es mir nicht gut tut, einsam zu sein. Wann kommst Du wieder nach Norden?
In Liebe Deine Kuniang.»
Kuniangs letzter Brief aus Shan-hai-kwan stammte vom 28. August:
«Elisalex ist hier. Sie kam eigens herunter, um die Irredenti zu sehen. Ich muß den Dolmetsch machen, wenn sie mit ihnen spricht, und sie fragt die komischsten Sachen: Ob ihnen Rußland gefällt. Was sie von Sibirien halten. Ob sie dorthin zurück möchten. Ob sie eine Stellung haben wollen.
Ich glaube, sie würde lieber mit ihnen direkt sprechen, ohne meine Hilfe. Sie hat sich ein paar Slawen herausgesucht, mit denen sie sich verständigen kann, und führt lange Gespräche mit ihnen. Die Leute sind sehr begeistert von ihr. Kein Wunder!
Gestern abend, nach der Unterhaltung mit den Irredenti, ging ich mit Elisalex auf der Großen Mauer spazieren. Oben ist ein breiter Weg, und ich finde es sehr hübsch dort. Wenn man gegen Westen geht, hat man Aussicht auf die Berge; im Rücken liegt das Meer. Der Abend war schwül, es wetterleuchtete im Gebirge, und die Schwalben flogen niedrig. Sie schossen hin und her, knapp vor unseren Füßen, um die Fliegen zu fangen, die wir beim Gehen aufscheuchten. Ich fragte Elisalex, warum sie sich so leidenschaftlich für die Irredenti interessiere. Daraufhin hielt sie mir eine lange Rede über Politik. Sie behauptete folgendes: Rußland zerfällt, und nicht nur Rußland. Die ganze Zivilisation ist in Gefahr. Wir haben große Fortschritte auf wissenschaftlichem und technischem Gebiet gemacht, aber vergessen, wie man lebt. Das gilt nicht nur für den Westen, sondern auch für den Osten, weil China und Japan sich der Weltpolitik — was ist das eigentlich? — angeschlossen und ihre frühere Zurückhaltung vergessen haben.
Ein paar Oasen sind da und dort übriggeblieben, aber auch ihnen droht der Untergang. Eine davon liegt im Hochland Zentralasiens, das die Wiege des Menschengeschlechtes ist.
Elisalex meint, daß ein entschlossener Mann mit einer Schar treuer Gefolgsleute sich in den nordasiatischen Hochebenen, in Sibirien oder in der Mongolei, ein Königreich schaffen könnte, als letztes Fort der uralten Weisheit, die der Welt verlorengegangen ist. Sie hat gesagt, daß sie einen solchen Mann kennt und ihm bei der Verwirklichung dieses Ideals helfen will. Und deshalb müsse sie mit den Irredenti sprechen. Einige von ihnen seien vielleicht für ein Abenteuer zu haben oder warteten gar darauf. Sie will sie zu Soldaten eines Reiches machen, das es noch gar nicht gibt; eines Reiches, das sie einmal zu beherrschen hofft.
Wenn Elisalex mir solche Dinge erzählt, kann ich nicht herauskriegen, ob es ihr ernst damit ist oder ob sie bloß Scherz macht.
Gestern abend trugen wir beide unsere Betten auf die Veranda, die andern schliefen drinnen. Sie fürchten sich nämlich vor den Gewittern, die um diese Zeit sehr häufig sind. Ich erwachte eine Stunde vor Sonnenaufgang, als es noch kaum dämmerte. Elisalex saß aufrecht im Bett, das Kinn in die Hand gestützt, und starrte die Berge an. Ein Weilchen sah ich ihr sehr verschlafen zu, dann fragte ich, worüber sie nachdenke.
, erwiderte sie, Ich versuchte ihre Züge auszunehmen, denn ich konnte nicht sehen, ob sie lächelte. Aber es war noch zu finster.
, erwiderte sie. So schlug ich vor und sagte, wir alle wollten hinziehen, um dort zu leben und ewig glücklich zu sein; Du und ich und die Russen, und die Fünf Tugenden und Onkel Podger. Wäre das nicht lustig?
Weißt Du, ich glaube, das Ganze ist doch nicht nur eine Fata Morgana, ein Paradies auf Erden oder eine Insel der Seligen, wie sie die Chinesen auf Pu-to haben — oder sich wenigstens einbilden. Ich bin überzeugt, irgendwo außerhalb der Großen
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