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Der Schwarze Phoenix

Titel: Der Schwarze Phoenix Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Becker
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die Erinnerungen an Darkside mit all seinen grausamen Bewohnern und der allgegenwärtigen Gefahr einfach irgendwann verblasst. Letzten Endes wusste Jonathan nicht genau, was er tun würde, wenn er wieder dort war. Es war klar, dass seine Mutter hier etwas gesehen hatte, das sie dazu bewegt hatte, nach Darkside zurückzueilen, aber was war das gewesen? Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass es etwas mit den Gentlemen und James Arkels Tod zu tun hatte, aber er konnte es nicht beweisen.
    Als er die U-Bahn-Haltestelle betrat und in einen Zug stieg, wurde Jonathan sich einer Sache bewusst: Er hatte zum ersten Mal die Stimme seiner Mutter gehört, eine melodische Stimme mit einem irischen Akzent, und er hatte sich ihr nie zuvor so nahe gefühlt. Die Schule und der Alltag mussten warten. Er musste unbedingt herausfinden, was mit seiner Mutter geschehen war.

    Elias Carnegie spürte, wie das Tier in ihm erwachte. Es war später Nachmittag auf der Fitzwilliam-Straße. Die Atmosphäre war angespannt. Eine Windböe erfasstedie Seiten einer alten Ausgabe des »Kuriers« und ließ sie in Spiralen durch die Luft tanzen. Auf dem Kopfsteinpflaster hallten die Tritte der Pferdehufe wider. Die Sonne tauchte hinter den Dächern ab und erleuchtete zum Abschied mit einem letzten, blassen Strahl den Wermenschen, der die Straße entlangstapfte und offensichtlich die Pferdefuhrwerke nicht wahrnahm, die an ihm vorbeidonnerten und ihn nur um Zentimeter verfehlten.
    Carnegies Sinne waren so sehr geschärft, dass ihn die Eindrücke zu überwältigen drohten: der Geruch von Pferdemist auf den Röcken der Waschfrauen; das Klirren einer Münze, die gegen einen Laternenpfahl am anderen Ende der Straße geschnippt wurde, der Umriss einer Waffe, die sich unter der Jacke eines Passanten abzeichnete. Aber vor allem nahm er das Fleisch und das Blut um sich herum wahr. Carnegie hatte den ganzen Tag in seinen Gemächern verbracht und war nochmals die Details des Rafferty-Falls durchgegangen. Dabei hatte er vergessen, etwas zu essen. Nun war das Tier in ihm hungrig, und er musste es zufriedenstellen, bevor es ihn überwältigte. Jeden Tag führten die beiden Wesen in seiner Brust einen Kampf. Manchmal fühlte Carnegie sich so erschöpft, dass er am liebsten aufgegeben und sich der Kraft und den tierischen Freuden der Bestie hingegeben hätte. Das Leben erschien ihm so viel einfacher, wenn er sich verwandelte. Es gab dann keine Grauzonen mehr, alles war nur noch schwarz und weiß. Und rot. Er fragte sich, ob Jonathan jemals verstehen würde, wie schwierig es für ihn war. Trotz derZuneigung, die er für den Jungen empfand, gab es Zeiten, in denen Carnegie ihn ansah und nur Fett, Muskeln und Knochen wahrnahm. In diesen Momenten war Jonathans Leben in Gefahr.
    Finstere Gedanken. Carnegie betrat eilig die Metzgerei und lenkte mit einer knappen Handbewegung die Aufmerksamkeit des Mannes hinter dem Tresen auf sich. Col blieb die freundliche Begrüßung im Hals stecken. Er bedeutete Carnegie grimmig, nach hinten in den Kühlraum durchzugehen, und steckte sich, nachdem der Wermensch außer Sicht war, ein Hackbeil in den Gürtel, bevor er sich dem nächsten Kunden zuwandte.
    Obwohl er seinen dampfenden Atem in der kalten Umgebung des Kühlraums sehen konnte, nahm Carnegie den Temperaturwechsel nicht wahr. Seine Aufmerksamkeit galt den Fleischbrocken, die von der Decke hingen. Er beäugte sie fachmännisch, bevor er sich für den entschied, der neben ihm hing. Plötzlich war der heruntergekommene Privatdetektiv verschwunden und ein ausgehungertes Tier stürzte sich mit scharfen Klauen und Reißzähnen auf den Fleischbrocken, es verschlang die herausgerissenen Stücke, ohne nachzudenken oder lange zu kauen. Getrocknetes Blut befleckte sein Gesicht und seine Hände.
    Erst als er seine Finger sauber leckte, bemerkte er, dass er nicht alleine war. Die Kälte hatte zwar seinen Geruchsinn betäubt, aber er hörte flache Atemzüge irgendwo im Raum. Der Wermensch grinste wölfisch.
    »Ich bin noch nicht satt«, rief er. »Es ist immer nochPlatz für etwas warmes Fleisch. Warum kommst du nicht aus deinem Versteck, wer auch immer du bist, und wir reden darüber?«
    Auf der anderen Seite des Raums trat Raquella hinter einem Regal hervor. Sie war ganz in Schwarz gekleidet. Ihr dicker Wollmantel, der Hut, der Schal und die Handschuhe hoben sich deutlich von der weißen Wand des Kühlraums ab. Die Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, vielleicht vor Kälte, vielleicht vor Angst.

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