Der Schweizversteher
sie sich nie wieder so recht erholen.
Aber Karl wird nicht umsonst der Kühne genannt, und so versucht er es sechs
Monate später noch einmal, obwohl er ebenso gut hätte zu Hause bleiben können.
Er stirbt bei Nancy auf dem Schlachtfeld durch die Hand eidgenössischer
Soldaten, und anschlieÃend verschwindet sein Reich von der Landkarte. Das
Kernland Burgund wird Frankreich einverleibt, die übrigen Gebiete fallen an die
Habsburger â zwei Mächte, die in den kommenden Jahrhunderten den Kurs Europas
mitbestimmen werden.
Das Schiff legt in Flüelen an, einem belebten kleinen
Ort am Südostufer des Urner Sees, etwa auf halber Strecke zum Endpunkt des Weges
der Schweiz â zumindest was die Entfernung betrifft, wenn auch nicht die
Wanderzeit. An diesem Punkt des Weges umfasst das mächtig gewordene Bündnis 13
Kantone sowie verschiedene unterworfene Gebiete, und daran änderte sich die
nächsten 300
Jahre nichts. Aber auch wenn die Landkarte der Schweiz nicht neu gezeichnet
werden musste, rollte das Rad der Geschichte weiter. Drei entscheidende
Ereignisse erschütterten das Land derart in seinen Grundfesten, dass alle drei
heute noch spürbar sind. Ein idealer Punkt für eine wohlverdiente Pause, ein
spätes Mittagessen und einen Galopp durch drei Jahrhunderte.
Wie das mit der Neutralität angefangen hat
In der Geschichte eines jeden Landes kommt ein
Zeitpunkt, an dem es sich übernimmt und eine demütigende Niederlage einstecken
muss. Die Schweiz macht da keine Ausnahme. Was für GroÃbritannien die Suezkrise
und für Amerika Vietnam, das war für die Eidgenossen Marignano. Nachdem sie die
Burgunder vernichtend geschlagen hatten, bewiesen die Schweizer immer wieder
ihr militärisches Können, sie besiegten abermals die Ãsterreicher, eroberten
das Tessin und nahmen dann den Franzosen Mailand weg. 1515 folgte der Gegenschlag
Frankreichs, und zwar bei dem Dörfchen Marignano (heute: Melegnano) in der
Lombardei. Das Undenkbare geschah: Die scheinbar unbesiegbaren Schweizer
Truppen erlitten eine blutige Niederlage. Doch nicht diese verlorene Schlacht
an sich war so bedeutsam, sondern wie die Schweizer darauf reagierten. Im
Unterschied zu anderen GernegroÃmächten zogen sie nicht etwa los und eroberten
eben andere Gebiete wie die Briten nach dem Verlust ihrer amerikanischen
Kolonien. Sie kämpften auch nicht einfach weiter, während ihre Welt langsam
zerfiel, wie es die Römer einige Jahrhunderte lang taten. Nein, sie schlossen
Frieden mit den Franzosen, gaben ihnen Mailand zurück und beschlossen, nie
wieder zu kämpfen. Gegen niemanden. Das war der Anfang der Schweizer
Neutralität, wie wir sie kennen, obwohl ihre formale Anerkennung durch die
GroÃen und Mächtigen noch bis ins 19. Jahrhundert warten musste.
Natürlich sind manche anderen Dinge wichtiger als das
Niederlegen der Waffen. Zum Beispiel das Geldverdienen. Und wenn all die
strammen jungen Männer nicht mehr ausziehen, um Feinde zu töten, könnten sie am
Ende noch aufeinander losgehen. Die ideale Lösung war, sie an jene zu
vermieten, die eine Armee brauchten. Warum selbst Kriege führen, wenn man Geld
dafür bekommt, die Scharmützel anderer auszutragen? Menschen waren somit einer
der ersten Schweizer Exportartikel â selbstverständlich mit dem Gütesiegel
»Made in Switzerland«. Und es waren nicht einzelne Freiwillige, sondern ganze
Bataillone mitsamt ihren Offizieren, die von den Kantonen vermietet wurden.
Schweizer Soldaten stritten und starben fortan für
fast alle europäischen Mächte. Sie kämpften sogar gegeneinander, wenn sie bei
Kriegsgegnern im Sold standen. In die Geschichte gingen sie ein mit der
sinnlosen Verteidigung der von der Königsfamilie geräumten Tuilerien im August 1792,
bei der mindestens 600
Schweizer Söldner fielen, ein Massaker, an das heute das traurige Löwendenkmal
von Luzern erinnert. Söldnertruppen schaffte die Schweiz erst Mitte des 19.
Jahrhunderts ab â bis auf eine: die Schweizergarde des Vatikans. Seit über 400
Jahren wacht diese Elitetruppe, nicht immer erfolgreich, über die Sicherheit
des Papstes und steht für unzählige Touristenfotos stramm. Wer sich hier
bewirbt, muss nicht nur Schweizer sein, sondern auch männlich, alleinstehend,
unter dreiÃig, über 1,74
Meter groà und einen »einwandfreien Leumund« besitzen. Protestanten mögen von
einer
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