Der Schwur
als alles, was sie in ihrem Leben je gesehen hatte.
»Nachtfrost! Wo ist der Fluss?«
Statt einer Antwort bog er nach links ab und galoppierte jetzt direkt nach Osten. Dort ging die flache Steppe wieder in sanftes Hügelland über. Sonja konnte nichts Besonderes daran erkennen – keine Bäume, keine Häuser und auch keinen Fluss, nur ein paar große Felsen, die wie aus dem Land herausgebrochen aussahen. Auf jeden Fall nichts, wo man sich vor dem Spürer verstecken konnte.
Aber dann galoppierte Nachtfrost einen Hügel hinauf und Sonja sah den Fluss.
Genauer gesagt, sie sah die Schlucht, die hinter den großen Felsen das Land durchschnitt, als hätte ein Gott mit einer Axt ins Land geschlagen. Sie war mindestens dreißig Meter breit, und Sonja spürte, wie Nachtfrost sich zum Sprung spannte. Eisiger Schrecken durchfuhr sie. »Nein! Das kannst du nicht machen! Das ist viel zu breit!«
Halt dich fest.
»Nein! Nicht springen!«
Der entsetzte Schrei kam von einem der Männer hinter ihr. Sonja zuckte zusammen – von ihren Jägern hatte sie nun wirklich nicht erwartet, dass sie sich Sorgen um sie machten! Aber wahrscheinlich hatten sie nur Angst, ihre Beute zu verlieren, und das war der Ansporn, den sie brauchte. Sie drückte die Beine fest an, beugte sich vor und wickelte sich die Mähne fest um die Hände. Ganz egal, was passierte – der Spürer würde sie nicht kriegen!
Nachtfrosts Galoppsprünge wurden kürzer. Die Schlucht war tausend Meter breit, die andere Seite unerreichbar fern. Sonja kniff die Augen zu. Nachtfrost setzte zum Sprung an und stieß sich ab.
W
echselbalg
Das Knattern des Motors erstarb und zog nur ein schwaches Echo hinter sich her, das im Rasseln des Gitters an der Tiefgarage unterging. Philipp Berger nahm den Helm ab, hängte ihn an den Lenker seines Mopeds, stieg ab und reckte sich erst einmal ausgiebig. Endlich wieder zu Hause! Sein dreitägiger Lehrgang über Motoren und Treibstoffe hatte ihm zwar Spaß gemacht, aber die Hin und Rückfahrt auf schlammigen Landstraßen in Regen und Nebel gehörten nicht zu seinen angenehmsten Erinnerungen. Seine Finger waren trotz der Handschuhe steif vor Kälte; Jacke und Hose waren triefend nass und schlammbespritzt. Er fuhr sich mit den Fingern durch die strubbeligen braunen Haare und wuchtete seine Tasche vom Gepäckträger. Dann schob er das Moped zu den Fahrrädern der übrigen Hausbewohner, nahm seine Tasche, Helm und Handschuhe und verließ die Tiefgarage.
Er stieg die Treppe des Mehrfamilienhauses hoch bis in den ersten Stock, zog seine dreckigen Motorradstiefel aus und vervollständigte damit die Schuhsammlung der Familie Berger. Dann schloss er die Tür auf, hinter der nicht nur der Fernseher, sondern auch ein durchdringendes Pfeifen zu hören waren.
Seine Begrüßung bestand in einem scharfen Schrei aus der Küche. »Philipp, bist du das? Sag deinem Bruder, er soll sofort die verflixte Maschine ausmachen!«
»Hallo, Mama«, sagte Philipp mit philosophischer Ruheund klopfte auf dem Weg zu seinem Zimmer an Pauls Tür. »Paul, mach die verflixte Maschine aus, oder ich werf dich aus dem Fenster.«
»Moment noch«, schrie Paul zurück. »Ich muss sehen, ob sie explodiert, wenn ich hier an dem Regler –«
»Paul!«
»Jaja, schon gut. Ihr blöden Spielverderber!« Übergangslos brach das Pfeifen ab.
Philipp betrat sein Zimmer und ließ die Tasche auf den Boden fallen, während er sich umsah. Alle Flugzeugmodelle waren noch heil. Das war keine Selbstverständlichkeit, wenn man einen neunjährigen Bruder hatte, der sich auf seine zukünftige Karriere als »Wissenschaftler« vorbereitete, indem er so ziemlich jeden Gegenstand kaputt machte, um zu sehen, wie er funktioniert hätte.
Philipp zog die dreckigen Klamotten aus, wickelte sich in den Bademantel seines Vaters und steckte auf dem Weg zum Badezimmer kurz den Kopf in Sonjas Zimmer. »Bin wieder da, Kröte.«
Sonja saß auf ihrem Bett und blickte von ihrem Buch auf. »Hallo, Philipp! Wie war’s denn?«
»Vor allem laut. Was macht der Bericht für deine Enkel?«
Sie runzelte die Stirn, sah verwirrt aus und kicherte dann. »Ich hab doch gar keine Enkel.«
Philipp stutzte; eine solche Antwort hatte er nicht erwartet. »Ich meinte die Geschichte mit Nachtfrost.«
»Ach, das«, sagte Sonja gedehnt. »Da hab ich nicht viel dran gemacht.«
»Was? Wieso denn nicht? Du warst doch ganz begeistert von der Idee!«
»Keine Zeit gehabt«, antwortete sie vage und schaute wieder in ihr
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