Der Schwur
wirklich!«
Darian blickte sie einen Moment nur an und schüttelte dann den Kopf. Aber er sagte nichts. Schweigend trat er an den Rand des Felsvorsprungs und schaute nach unten.
»Siehst du etwas?«, fragte Melanie fast gegen ihren Willen.
»Nur rötlichen Nebel. Und den Pilz, den du abgebrochen hast. Er ist nicht weiter weggerollt oder abgestürzt … er könnte auf einen weiteren Felsvorsprung gefallen sein.«
Melanie hatte nicht die Absicht, sich der Felskante zu nähern. »Ist es tief?«
»Vielleicht vierzig Fuß.«
»Was? Wie viel ist das in Metern?«
»In was?«
»Ach, egal. Können wir da runterklettern?«
»Ich ja. Wie gut du klettern kannst, weiß ich nicht.«
»Wieso? Weil ich ein Mädchen bin?«
Darian schaute sie verblüfft an. »Was hat das denn damit zu tun, ob du klettern kannst oder nicht? Ich meine nur, dass ich in eurer Welt außer Bäumen nichts gesehen habe, wo man hinaufklettern könnte. Und im Wald habe ich niemanden gesehen, der auf einen Baum geklettert wäre, um sich ein paar Nüsse zu holen. Sie fallen auf den Boden und verrotten.« Er zuckte die Achseln. »Also habe ich gedacht, ihr klettert nicht.«
»Da denkst du falsch. Ich bin in meiner Klasse die Beste im Sport.« Melanie schob die Schultern zurück.
»Und was ist Sport?«
»Wie bitte? Na, Klettern eben. Und Schwimmen, Reiten, Volleyball, Tennis, …«
»Aha«, sagte Darian. »Ich verstehe mal wieder nur die Hälfte von dem, was du sagst. Also schön – lass uns versuchen, heil hier herunterzukommen.« Er schaute noch eine Weile nach unten, dann drehte er sich um, kniete sich hinund suchte mit dem Fuß nach einem Halt. Melanie ließ sich auf alle viere nieder und krabbelte bis zur Kante. Beim ersten Blick in die Tiefe wurde ihr schlecht. Das waren ja mindestens fünfzehn Meter!
»Sei bloß vorsichtig! Mehr nach rechts!«
»Danke.« Darian stand dicht an die Felswand gepresst und hielt sich an zwei winzigen Vorsprüngen fest. Mit dem Fuß tastete er nach rechts und fand Halt. Ganz vorsichtig verlagerte er sein Gewicht, hakte die Finger in winzige Nischen und Vorsprünge und schob sich unendlich langsam nach unten. Melanie dirigierte ihn, so gut sie konnte. Etwa drei Meter über dem Felsvorsprung mit dem abgebrochenen Riesenpilz riskierte Darian einen Blick über die Schulter, schaute nach unten – und ließ sich fallen. Noch bevor Melanie mehr tun konnte, als einen entsetzten Schrei auszustoßen, landete er auf dem Pilz. Eine rötliche Nebelwolke wirbelte auf. Darian rollte zur Seite, fing sich geschickt ab und stand neben dem Pilz auf den Felsen.
»Alles in Ordnung!«, rief er nach oben. »Der Pilz ist fest eingekeilt. Selbst wenn du fällst, kann dir nichts passieren!«
»Das sagst du so leicht«, dachte Melanie. Sie war gar nicht mehr so sicher, dass sie es wirklich schaffen konnte. Es gab zwar viele Vorsprünge und Löcher in der Felswand, aber sie waren viel kleiner, als sie sich das gewünscht hätte. Und der Pilz sah von hier oben ziemlich klein aus. Was, wenn sie an der falschen Stelle abrutschte? Dann würde sie direkt in den Abgrund stürzen!
Warum war sie nur so dumm gewesen, mitkommen zu wollen! Sie konnte auch nicht darauf hoffen, einfach aufzuwachen und sich in ihrem Bett wiederzufinden. Aber jetzt war es zu spät, sie musste dort hinunter, auch wennihr das Herz bis zum Hals schlug und ihre Hände plötzlich schweißnass waren.
»Kommst du?«, rief Darian von unten.
»Moment noch!« Sie ärgerte sich selbst, dass ihre Stimme so piepsig klang, aber sie konnte es nicht ändern. Sie setzte sich hin und atmete erst einmal tief durch. Das hatte ihre Sportlehrerin ihr beigebracht, bevor sie im Schwimmbad zum ersten Mal vom Zehnmeterbrett gesprungen war. Allerdings war das auch ihr letzter Sprung gewesen; sie hatte es nur getan, um den anderen Mädchen zu beweisen, dass es möglich war und dass sich nicht nur die Jungen etwas trauten. Aber anschließend war sie bei dem bloßen Gedanken, noch einmal zu springen, fast gestorben vor Angst.
»Melanie!«, rief Darian.
»Verflixt noch mal! Ja, ich komme ja schon!« Sie zog ihren Kniestrumpf aus und schob den nackten Fuß in den kaputten Reitstiefel. Pfui Teufel, war das kalt! Aber sie konnte ja schlecht barfuß klettern, oder? Also klappte sie den zerschnittenen Schaft hoch und band ihn mit dem Strumpf zusammen. Wild entschlossen drehte sie sich dann um, schob ein Bein über die Kante und suchte nach Halt.
»Mehr nach links!«
Sie schob den Fuß nach links,
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