Der Seele schwarzer Grund: Kriminalroman (Knaur HC) (German Edition)
Ausdruck im Gesicht. Sie bog um die Ecke, ging den Treidelpfand in Richtung der halbverfallenen Gebäude und Schuppen neben dem Schleusenwärterhaus.
Eine Frau mit einem Terrier an der Leine kam ihr entgegen. Als der Hund Lynsey sah, begann er zu bellen, und irgendwie fand sie durch das Bellen ihre Ruhe wieder.
Sie blieb stehen und holte das Handy heraus, zögerte jedoch. Sie wollte weiter, musste sich die Gebäude vor allen anderen ansehen, und außerdem, was könnte sie sagen? Er hatte ihr nichts getan. Es war das zweite Mal, und sie fühlte sich bedroht, aber, wenn man es genau bedachte, hatte er nichts Bedrohliches geäußert. Die Polizei würde vermutlich nur lachen.
Die alten Lagerhäuser waren in schlechtem Zustand, jedoch längst nicht so schlimm, wie sie befürchtet hatte. Lynsey fand sie aufregend. Sie ging umher, fotografierte, rechnete im Kopf. In dem großen Hauptgebäude war es kühl und dämmrig, Staubflocken tanzten in den Sonnenstrahlen, die durch die vernagelten Fenster und die Löcher im Dach drangen. Dieser Teil könnte vielleicht in vier Apartments umgewandelt werden. Das Schleusenwärterhaus sollte in seinen Ursprungszustand versetzt werden, als freistehendes Haus, doch es war sehr verfallen. Die Schuppen und Außengebäude waren das Einfachste. Daraus ließen sich rasch und zu geringen Kosten kleine Werkstätten herstellen.
Die Auktionsschätzung war viel geringer, als das Gesamte bringen würde. Sie würde mit ihrem Bankdirektor sprechen müssen, um zu erfahren, ob sie genug Geld für den Kauf und die Arbeiten aufnehmen konnte. Im Kopf war ihr klar, wie unwahrscheinlich das war, doch ihr Kopf war auch ein geschäftsmäßiger, und sie hatte keinen Zweifel, dass, falls sie den nächsten großen Schritt auf der Erfolgsleiter machen wollte, die Sprosse direkt vor ihr lag. Wenn sie die verpasste, würde es lange dauern, bis sich ihr erneut eine solche Gelegenheit bot.
Das Geräusch ließ sie von der alten Werkbank aufspringen, auf die sie sich zum Nachdenken gesetzt hatte. Jemand schlug gegen die Seitenwand des Gebäudes, und sie hatte kein Recht, hier zu sein, sie war unerlaubt eingedrungen und konnte sich nicht auf Mel berufen. Sie steckte die Kamera in die Tasche, als die Seitentür nachgab.
Er stand da, blinzelte in das Dämmerlicht, die Sonne hinter seinem Kopf verlieh ihm eine Art Strahlenkranz. Lynseys Haut prickelte. Er hatte sie weder angefasst noch bedroht, doch sie war sich absolut sicher, dass er das jetzt tun würde, und hier unten würde niemand vorbeifahren oder zu Fuß vorbeikommen. Die Chance, einen weiteren Hundebesitzer auf dem Treidelpfad zu treffen, war gering.
Er kam langsam herein, und sie merkte, dass er sie noch gar nicht gesehen hatte, dass sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnen mussten.
»Lizzie? Wo bist du? Ich habe dich hier reingehen sehen, ich bin dir gefolgt. Warum bist du nicht nach Hause gekommen? Warum bist du hierhergegangen? Lizzie.«
Lynsey blieb erstarrt stehen, überlegte, was sie tun sollte. Sie war durchtrainiert und eine schnelle Läuferin, sie hatte den Vorteil, ihn und den Ausgang hinter ihm sehen zu können. Sie konnte warten und hoffen, dass er weiter in das Gebäude hineinkam, weg von der offenen Tür, damit der Weg nach draußen besser zu erreichen war, oder sie konnte jetzt lossprinten und riskieren, dass er sie packte, während sie an ihm vorbei floh.
Sie meinte, er müsse ihr laut klopfendes Herz hören. Es schien in dem leeren Raum des gesamten Gebäudes widerzuhallen.
»Lizzie?«
Ihr fiel ein, dass er beim ersten Mal, als er ihr gefolgt war, zu weinen begonnen hatte. Jetzt war wieder das Schluchzen in seiner Stimme, hysterisch, verzweifelt.
Sie wartete. Es dauerte lange, doch schließlich bewegte er sich, aber nicht weg von ihr zur anderen Seite des Lagerhauses, sondern auf sie zu. Im nächsten Moment würde er sie entdecken. Sie trug eine weiße Bluse. Er konnte sie nicht übersehen.
»Lizzie«, sagte er jetzt ganz leise. »Wie ist das?«
Lynsey öffnete den Mund zu einer Antwort, biss sich dann hart auf die Lippe.
»Tot zu sein«, sagte er. »Erzähl’s mir. Wie ist das? Ich muss es wissen. Ich muss dich mir vorstellen können. Als Tote.«
Mit einer einzigen Bewegung stieß sich Lynsey von der Werkbank ab und rannte quer durch das Lagerhaus zu dem hellen Lichtstreifen. Sie war schnell wie der Blitz, und als sie das Sonnenlicht erreichte, rutschte sie auf etwas Lockerem aus und krachte zu Boden.
Im Fallen schrie sie,
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