Der Seelenbrecher
schmerzhafte Bild ihrer spastischen Krämpfe zu verdrängen, doch stattdessen schnellte mit der Wucht eines unter Wasser gepressten Medizinballs die Erinnerung an Katja Adesi an die Oberfläche. Ihre Grundschullehrerin, das zweite Opfer.
»Jedenfalls habe ich direkt nach der Behandlung meine Verzweiflung mit einer halben Flasche Whiskey ersäuft, mich ans Steuer gesetzt und bin gegen einen Baum geknallt.«
Caspar tastete unter die Fetzen seines zerrissenen TShirts und fuhr mit dem Daumen über die größte seiner Narben, die sich direkt unter der Brust bis kurz über den Bauchnabel schlängelte.
Er sah an sich hinunter. In dem künstlichen Licht wirkte die haarlose Hautverwerfung wie ein rosa Lavastrom, der sich durch eine aufgeplatzte Bodenwelle nach oben drückt.
Auf einmal war seine Angst verflogen und durch ein intensiveres Gefühl ersetzt worden: Trauer. Er wusste, welche Bedeutung seine Narben wirklich hatten. Sie waren ein Zeichen dafür, dass ihm ein grauenhafter Fehler unterlaufen war und dass er sein Versprechen niemals würde halten können.
Ich komm bald wieder, und dann wird alles gut werden, mein Schatz. Alles wird so wie früher.
»Ich bin mir nicht ganz sicher … ich glaube … ich vermute …«, äffte Tom Caspars Erklärungsversuche nach. »Du selbst hast damit also nichts zu tun, ja? Und woher, bitte schön, weiß der Seelenbrecher dann von deinen Narben?«
»Den Mist muss ich mir von dir nicht anhören.« Caspar sprang vom Tisch und ballte wütend die Fäuste. »Ausgerechnet du willst mir was anhängen, ja? Wo warst du denn, als Raßfeld verschwand? Wer hat denn die zweite Rätselkarte aus dem Beutel gezaubert? Hä?« Jetzt ahmte er Toms verächtlichen Tonfall nach.
»Siehst du, ich kann den Spieß auch umdrehen.« »Hört doch auf zu streiten«, warf Greta ein, und tatsächlich schien sich Schadeck etwas zu beruhigen. »Schön, mal angenommen, du steckst da nicht mit drin, was hat das Rätsel denn sonst zu bedeuten?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Aber ich vielleicht.«
»Du?«
Alle drehten sich erstaunt zu Yasmin um, die sich unerwartet einmischte.
»Was denn?«
»Nun, ich …«
Sie räusperte sich nervös und begann wieder, an ihrem Ring zu drehen.
»… also, ich hab schon daran gedacht, als ich mit Sophia vor dem Kamin saß.«
»Woran?« Schadeck, der ihr am nächsten stand, strich der Schwester fürsorglich eine rote Haarsträhne aus der Stirn.
»An das Feuer«, antwortete sie. »Du hast doch selbst gesagt, das Schott dürfte gar nicht unten sein, wegen Brandschutz und so.«
»Ja und?«
»Vielleicht gibt der Seelenbrecher uns ja Hinweise mit diesen verrückten Rätseln. Das ist bestimmt irgend so eine kranke Schnitzeljagd, und diese Brandnarben sind nur ein weiterer Wegweiser.«
»Zu einem Notausgang?« Caspar sah sie fragend an. »Ja. Ich meine …« Yasmin stockte wieder und traute sich dann endlich, ihren Plan in Worte zu fassen.
»Warum legen wir kein Feuer? Das Schott fährt doch bestimmt hoch, wenn die Brandmelder anschlagen.« »Gar keine schlechte Idee«, wollte Caspar sagen, aber Bachmann übertönte ihn aufgeregt.
»Und was, wenn nicht? Nein, nein, nein. Das ist viel zu gefährlich. So gut kenne ich das System nicht, wir hatten es noch nie in Betrieb.«
Auch Schadeck hob abwehrend die Hände.
»Er hat recht. Wenn der Plan fehlschlägt, werden wir hier drinnen bei lebendigem Leib gegrillt.«
»Nicht unbedingt«, sagte Caspar und wartete kurz. Erst als er die volle Aufmerksamkeit der Gruppe besaß, erläuterte er seinen Plan.
02.36 Uhr
Natürlich war es ein Fehler. Sie hätten sich entgegen ihrem ursprünglichen Vorsatz nicht aufteilen dürfen. Caspar ahnte, dass es fatale Folgen haben würde, schon als er es vorschlug.
Aber wenn überhaupt, konnte es nur so und nicht anders funktionieren.
Ohnehin war Greta die Einzige gewesen, die seinem Vorschlag etwas abgewinnen konnte. Sie hatte sich ihm auf seinem Weg zum Kernspinraum anschließen wollen, was natürlich gänzlich außer Frage stand. Neben Sophia war sie das schwächste Glied in der Kette. Sie würden genug Probleme haben, sich selbst in Sicherheit zu bringen, wenn es so weit war. Auf der Flucht konnte er keine neunundsiebzigjährige Witwe mit Hüftproblemen an seiner Seite gebrauchen. Schließlich war es Bachmann gewesen, der ihn begleitete, wenn auch nur unter Protest. Die anderen waren nach einer kurzen, aber hitzigen Diskussion gesammelt wieder nach oben gefahren, um sich in der Bibliothek einzuschließen.
»Das ist
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