Der Seelenhändler
Burggrafen zu Gallenstein, der, wie Wolf zufällig wusste, noch am Abend zuvor beim Adlerwirt in Sankt Gallen die halbe Nacht durchgezecht hatte, bereits um diese Zeit wieder auf den Beinen sein konnte, sprach für die gute Kondition des Mannes.
Wolf beschloss, dem Zecher den Platz zu überlassen und eine andere Stelle aufzusuchen. Schon war er dabei, sich diskret zurückzuziehen, als sein Blick abermals die Fußspur streifte – und an ihr hängen blieb.
Schlagartig nahm sein geschultes Auge die ungewöhnliche Beschaffenheit der Fährte, genauer, des rechten Fußabdrucks wahr. Der Mann, der da seelenruhig flussaufwärts watete, musste über einen extrem ausgebildeten Hohlfuß verfügen. Klar und scharf verriet die Spur, dass der Fuß ein abnorm hohes Längsgewölbe besaß; teilweise waren nur Zehen und die Ferse im Sand zu erkennen.
Wolf erschrak.
Sollte der, der da badete etwa …?
Nein, unmöglich!
Oder doch?
Wolf beschloss, zu warten und den Mann weiter zu beobachten. Er war nackt. Inzwischen hatte er das Wasser verlassen und ging am Ufer entlang. Wolf bemerkte, dass er hinkte. Auf einmal blieb der Mann stehen und sah zu seinem Kleiderbündel hinüber, dann wieder in Richtung des Flusses. Er schien unschlüssig zu sein. Jäh wandte er sich um und stieg erneut ins Wasser. Er watete wieder in die Richtung zurück, aus der er gekommen war, und verschwand hinter der in den Fluss hineinragenden Felszunge.
Es war die Gelegenheit. Ohne lange zu überlegen, schlich sich Wolf im Schutz des Unterholzes dicht an den Erlenstrauch heran, neben dem Kleidung und Stiefel des Badenden lagen. Wenn der Mann derjenige war, den sie suchten, musste der rechte seiner beiden Stiefel über die gleiche Einlage verfügen wie das zweite, von ihm versteckte Paar. Denn um ohne Probleme gehen zu können, musste er eine Einlage tragen – ein sorgfältig gearbeitetes Stück Holz, das die extreme Deformation des rechten Fußes ausglich.
Wolf zögerte nicht länger. Er langte durch den Strauch, griff sich den rechten Stiefel und besah ihn sich kurz. Dann fasste er in den Schaft. In der Tat, sein Verdacht bestätigte sich: die mit weichem Leder überzogene Einlage war deutlich zu fühlen.
Wolf spürte, wie seine Hände vor Aufregung zu schwitzen begannen; er hatte also doch den richtigen Riecher gehabt. Vorsichtig legte er den Stiefel wieder an seinen Platz zurück, wobei er darauf achtete, keinerlei Spuren im Sand zu hinterlassen.
Nun richtete er seine Aufmerksamkeit auf das Kleiderbündel. Und auf die Lederschlaufe, die darunter hervorlugte. Wolf atmete schneller. War es tatsächlich die Schlaufe, die er zu kennen glaubte? Diesmal griff er mit beiden Armen durch den Strauch. Vorsichtig schoben sich seine Hände unter das Bündel und hoben es an – kein Zweifel, er hatte sich nicht getäuscht. Da lag sie – die Gürteltasche, die er Lisa übergeben hatte und die aus ihrer Kammer entwendet worden war.
Er sah zu der in den Fluss ragenden Felszunge hinüber, hinter der der Badende verschwunden war. Nichts regte sich dort. Er musste es wagen. Rasch zog er die Tasche zu sich heran. Mit fliegenden Fingern schnürte er sie auf und griff hinein. Sie barg zwei Pergamentstreifen und – erneut wurde ihm heiß und kalt – zwei Ringe. Den Siegelring, den er bereits kannte, mit dem das Schreiben der Entführer, das sie dem Grafen überbringen ließen, gesiegelt worden war, und – den Siegelring des Saurauers!
Eine ungeheure Erregung, gepaart mit einem unbeschreiblichen Triumphgefühl ergriff Wolf, als er die im Sonnenlicht blinkenden Ringe betrachtete, die in seiner Hand lagen. Wieder blickte er zum Fluss hinüber. Der Mann, der dort hinter dem Felsen das kühle Wasser der Enns genoss, konnte sämtliche Erklärungen liefern, die sie benötigten, um den Fall endlich aufzulösen. Und weiß Gott, sie würden ihn zum Reden bringen.
Er ließ die Ringe wieder in die Tasche gleiten und besah sich die Pergamentstreifen, die beide beschrieben waren. Die Botschaft des einen kannte er bereits. „Sankt Bartholomä. Schenke ,Zum Bären‘ auf dem Weg nach Rottenmann“, stand dort zu lesen. Auch der andere der beiden Streifen – er war, als Wolf seinerzeit die Tasche fand, noch nicht darin gewesen – enthielt eine Nachricht mit Datum. Sie war etwas ausführlicher formuliert und lautete: „Sei am Tag vor Sankt Bernhard um Mitternacht bei der großen Höhle am Wasserfall im Johnsbachtal. Dort empfängst du weitere Anweisungen und übergibst mir den
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