Der Seelenleser
hatte einen nachgiebigeren Ansatz als Lore, gab ihm in kürzerer Zeit mehr Informationen über ihr Dilemma und hatte auch eine festere Idee, was Fane für sie tun könnte. Da Vera eine engere emotionale Beziehung zu Elise hatte als zu Lore, vermutete Fane, dass es ihr auch besser gelungen war, das Gespräch mit ihm vorzubereiten.
Außerdem hatte Elise größere Erfahrung darin, zwischen den Zeilen zu lesen. Das Leben hatte ihr bislang eine Rolle mit zynischem Text zugewiesen, und sie hatte überlebt, indem sie es gelernt hatte, kleinste Anspielungen richtig zu interpretieren.
Fane erhielt Stück für Stück einen Eindruck von Elise– zusammengesetzt aus kurzen Seitenblicken, die von dem Licht entgegenkommender Autos und der Straßenlaternen erleuchtet waren. Sie roch leicht nach Parfüm, eher wie ein Duftkissen, und sie sprach sanft, in einem anmutigen, perfekt auf die Situation abgestimmten Tonfall.
Veras Beschreibung von Elises Schönheit passte genau: Ihr Haar hatte die Farbe eines verblichenen Kodachrome-Fotos einer Rothaarigen, und es rahmte ihr Gesicht in lockeren Wellen ein. Ihr Mund war eine wahre Freude, und Fane mochte die Art, wie er die einzelnen Worte formte. Aber das Auffälligste war ihre Haut, die eine besondere Blässe hatte, fast durchsichtig zu sein schien. Fane konnte sich nicht vorstellen, dass irgendein Mann, der ihr Gesicht sah, sich nicht überlegte, was für ein schöner Anblick der Rest der Person sein müsste.
Doch solche unhöflichen Gedanken wurden durch Elises Persönlichkeit klar in den Schatten gestellt. Sie war ganz einfach eine nette Frau, und mit ihr zu reden wäre ein Vergnügen gewesen, wenn die Umstände nicht so seltsam und belastet gewesen wären.
Fane hatte bereits ein leichtes Faible für Elise entwickelt. Ihre steinige Kindheit unterschied sich nicht so sehr von seiner, und er wusste aus eigener bitterer Erfahrung, dass diese Jahre eine Art psychischer DNS erzeugten, die alles durchdrang, was man irgendwann von sich zu wissen glaubte. Begreifen zu wollen, wie Kindheitserfahrungen sich auf das spätere Leben auswirkten, war, als wollte man die flüchtigen, schimmernden Wellenbewegungen einer Fata Morgana einfangen.
Als sie den Sutro Heights Park erreichten, hatte Elise ihm dargestellt, warum sie seine Hilfe benötigte. Sie fuhren nach Süden, und in der Dunkelheit, weniger als fünfzig Meter hinter Elises Seitenfenster, lag das riesige schwarze Loch des Pazifiks.
» Mein größtes Problem ist, dass Sie eigentlich gar nichts über diesen Mann wissen. Sein Name ist ziemlich sicher nicht Ray Kern, und daher habe ich erst einmal keinen Ausgangspunkt.«
» Ja. Das… ist unglaublich, oder?« Sie blickte geradeaus auf die Straße, die sich in der nebligen Nacht zwischen den Sanddünen verlor. » Es ist beschämend.«
» Sie dürfen nicht vergessen, dass Sie in diesem Fall das Opfer sind, nicht ein Mitverschwörer gegen sich selbst.«
» Wissen Sie, was mich überrascht hat?«, fragte sie. » Als ich Ihnen gerade von dieser Bezieh…, Affäre, erzählt habe, klang es irgendwie– bizarr. Aber während sie lief, Tag für Tag, Woche um Woche, schien es das überhaupt nicht. Es war höchstens ab und zu mal ein wenig ungewöhnlich.«
Ihre Bemerkungen passten zu Veras Beobachtung, dass Elises Bereitschaft, sich dem » menschlichen Mischmasch« ihres Lebens stellen zu wollen, eher atypisch war. Vera hatte behauptet, Elise sei hochgradig mutig. Fane entschloss sich, dies auszunutzen.
» Ich möchte ehrlich mit Ihnen sein«, sagte er. » Für mich klingt das so, also ob dieser Mann versucht, Ihnen irgendeine Falle zu stellen.«
» Ja«, sagte sie und drehte ihr Gesicht von ihm weg.
» Was glauben Sie, was er von Ihnen will?«
Er konnte spürten, wie sie sich bei dieser Frage versteifte.
» Sie meinen«, sagte sie, » abgesehen vom Sex?«
» Ich meine überhaupt nichts. Sie denken, es geht ihm nur um den Sex? Oder nicht?«
Sie antwortete nicht sofort. Ein Händchen haltendes Pärchen, das einen Labrador an der Leine mit sich führte, tauchte am Rand der Dünen aus der Dunkelheit auf. Sie schienen vom Strand gekommen zu sein, und sie blieben stehen und blinzelten in die Lichter der Scheinwerfer, als Fane an ihnen vorbeifuhr.
» Ich wurde schon immer für Sex ausgenutzt«, sagte sie. Diese Bemerkung war umso trauriger, weil sie ganz sachlich und ohne Trauer ausgesprochen wurde. » Mich überrascht nichts mehr, was die Frage angeht, wozu Männer bereit sind, um Sex zu
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