Der seltsame Mr Quin
Verleumder – natürlich! Der junge Amerikaner bekam das Gefühl, dass er einen flüchtigen Blick in das Leben des alten Regimes werfen durfte, dessen Mittelpunkt die Gräfin bildete: einsam, aristokratisch, Freundin der Berater und Fürsten – eine Gestalt, die romantische Verehrung auslösen konnte.
»Und nach allen Seiten hat sie sich verteidigen müssen«, schloss der junge Mann voller Wärme. »Es ist schon sehr ungewöhnlich, aber in ihrem ganzen Leben hat sie nicht eine einzige Frau gefunden, mit der sie sich richtig hätte anfreunden können. Immer haben die anderen Frauen etwas gegen sie gehabt.«
»Wahrscheinlich«, sagte Mr Sattersway.
»Finden Sie das nicht auch skandalös?«, fragte Rudge.
»Nein«, sagte Mr Sattersway nachdenklich. »Das kann ich wirklich nicht behaupten. Frauen haben nun einmal eigene Ansichten – verstehen Sie? Und es hat keinen Sinn, sich in ihre Angelegenheiten einmischen zu wollen. Jede Einzelne ist eine Hauptdarstellerin.«
»Hier stimme ich mit Ihnen nicht überein«, sagte Rudge ernst. »Gerade das gehört heutzutage zum Schlimmsten, was man sich denken kann: die Unfreundlichkeit zwischen Frau und Frau. Kennen Sie Elizabeth Martin? Theoretisch stimmt sie mit mir vollkommen überein. Wir haben oft darüber gesprochen. Sie ist zwar noch ein Kind, aber was sie so denkt, ist völlig in Ordnung. In dem Moment aber, wo es zum praktischen Versuch kommt – naja, da unterscheidet sie sich eben von den anderen in keiner Weise. Sie kann die Gräfin nicht ausstehen, obwohl sie überhaupt nichts von ihr weiß, und sie will auch nicht hinhören, wenn ich ihr etwas zu erzählen versuche. Da stimmt doch etwas nicht, Mr Sattersway. Ich glaube an die Demokratie – und was ist sie anders als eine Bruderschaft unter Männern und Schwesternschaft unter Frauen?«
Er schwieg voller Ernst; Mr Sattersway versuchte, sich eine Situation vorzustellen, in der zwischen der Gräfin und Elizabeth Martin ein schwesterliches Gefühl entstehen könnte. Es gelang ihm nicht.
»Andererseits ist es aber so«, fuhr Rudge fort, »dass die Gräfin Elizabeth unendlich bewundert und sie wirklich bezaubernd findet. Und was beweist das?«
»Das beweist«, sagte Mr Sattersway trocken, »dass die Gräfin schon beträchtlich länger lebt als Miss Martin.«
Völlig unerwartet sprang Franklin Rudge auf ein anderes Thema über.
»Wissen Sie, wie alt sie ist? Sie hat es mir gesagt. Verdammt anständig von ihr. Ich hätte sie auf neunundzwanzig geschätzt, aber sie hat mir selbst gesagt, ganz von sich aus, dass sie fünfunddreißig sei. So sieht sie wirklich nicht aus, nicht?«
Mr Sattersway, dessen private Vermutungen über das Alter der Dame zwischen fünfundvierzig und fünfzig schwankte, zog lediglich die Augenbrauen hoch.
»Ich sollte Sie davor warnen, alles zu glauben, was man Ihnen hier in Monte Carlo erzählt.«
Er hatte genügend Erfahrung, um die Fruchtlosigkeit einer Auseinandersetzung mit dem jungen Mann einzusehen. Franklin Rudge befand sich in einem Zustand weißglühender Ritterlichkeit, dass er eine Behauptung, die nicht von stichhaltigen Beweisen gestützt war, einfach nicht geglaubt haben würde.
»Da kommt die Gräfin«, sagte er.
Sie näherte sich den beiden mit jener lässigen Anmut, die ihr so gut stand. Wenig später saßen sie zu dritt zusammen. Sie war zu Mr Sattersway zwar ausgesprochen charmant, jedoch in einer abwesenden Art. Immer wieder wandte sie sich an ihn, fragte ihn nach seiner Meinung und behandelte ihn wie eine Autorität.
Die ganze Geschichte war sehr klug eingefädelt. Nur wenige Minuten waren verstrichen, als Franklin Rudge feststellte, dass er auf sehr reizende, wenn auch unmissverständliche Weise fortgeschickt worden war, während die Gräfin und Mr Sattersway allein zurückblieben.
Sie klappte den Sonnenschirm zusammen und begann, mit der Spitze Figuren in den Staub zu zeichnen.
»Sie interessieren sich für diesen amerikanischen Jungen, Mr Sattersway, nicht wahr?«
»Er ist ein netter Bursche«, erwiderte Mr Sattersway unverbindlich.
»Ja, ich finde ihn auch sympathisch«, sagte die Gräfin nachdenklich. »Ich habe ihm einiges aus meinem Leben erzählt.«
»So?«
»Einzelheiten, die ich bisher nur ganz wenigen anvertraut habe«, fuhr die Gräfin verträumt fort. »Ich habe ein ungewöhnliches Leben geführt, Mr Sattersway. Nur wenige Menschen würden mir jene erstaunlichen Dinge glauben, die ich erlebt habe.«
Mr Sattersway war gescheit genug, ihre Absicht zu
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