Der seltsame Mr Quin
Treppe hinaufgingen, um sich vor dem Essen umzukleiden.
Mr Sattersway verspätete sich, weil er seinen Diener nicht mitgebracht hatte. Er geriet immer etwas aus der Ruhe, wenn ein Fremder seine Koffer auspackte. Als er herunterkam, war die Tischgesellschaft bereits versammelt, und Madge sagte unverblümt, wie es unter jungen Menschen üblich geworden war: »Oh, da ist ja auch Mr Sattersway. Gehen wir hinein, ich bin schon am Verhungern!«
Sie schritt mit einer grauhaarigen Dame voran, einer auffallenden Erscheinung mit regelmäßigen schönen Zügen und klarer, etwas scharfer Stimme.
»Guten Abend, Sattersway«, sagte Mr Keeley.
Mr Sattersway schrak zusammen. »Guten Abend«, antwortete er. »Verzeihen Sie, ich hatte Sie nicht gesehen.«
»Das tut niemand«, bemerkte Mr Keeley trübe.
Sie betraten das Esszimmer. Am breiten Mahagonioval des Tisches fand Mr Sattersway seinen Platz zwischen seiner jungen Gastgeberin und einem brünetten, etwas zu klein geratenen Mädchen, dessen burschikose laute Stimme und nur auf Wirkung bedachtes, klingendes Lachen ihn unangenehm berührten. Sie schien Doris zu heißen und gehörte zu dem Typ junger Mädchen, der ihm am wenigsten lag. Madges Tischnachbar war ein etwa dreißigjähriger Mann, dessen Ähnlichkeit mit der grauhaarigen Dame die beiden als Mutter und Sohn auswies.
Neben ihm…
Mr Sattersway hielt den Atem an. Er konnte nicht genau sagen, was es war. Schönheit war es nicht. Es war viel ungreifbarer, unbestimmbarer als bloße Schönheit.
Die Frau hörte Mr Keeleys etwas schwerfälligen Ausführungen zu und hielt den Kopf dabei leicht zur Seite geneigt. Sie war da und war es doch nicht! Irgendwie schien sie aus einer leichteren Substanz gemacht zu sein als alle anderen Mitglieder der Tafelrunde. Etwas an der Haltung ihres Körpers war schön, mehr als schön. Sie sah auf und blickte Mr Sattersway eine Sekunde lang in die Augen. Plötzlich fiel ihm das Wort ein, nach dem er gesucht hatte.
Betörend – das war es! Sie war betörend! Sie hätte ein Fabelwesen sein können, eine Fee aus einem Zauberberg. Neben ihr schienen die anderen nur allzu wirklich.
Trotzdem erregte sie auf sonderbare Weise sein Mitgefühl, als sei sie behindert durch die ihr fehlende Realität. Er suchte nach einem Vergleich, der ihr gerecht würde, und fand einen: Sie war wie ein Vogel mit einem gebrochenen Flügel.
Befriedigt wandte er seine Aufmerksamkeit wieder der Unterhaltung mit Doris über Mädchenpfadfinder zu und hoffte, dass sie seine Geistesabwesenheit nicht bemerkt hatte. Als sie ein Gespräch mit ihrem anderen Tischnachbarn anfing, einem Mann, den Mr Sattersway kaum wahrgenommen hatte, wandte er sich an Madge.
»Wer ist die Dame neben Ihrem Vater?«, fragte er leise.
»Mrs Graham? Ach, nein, Sie meinen Mabelle. Kennen Sie sie nicht? Mabelle Annesley, eine geborene Clydesley, eine aus dem unglücklichen Zweig der Familie.«
Er erschrak. Ja, er erinnerte sich an die unglücklichen Clydesleys. Ein Bruder hatte sich erschossen, eine Schwester war ertrunken, und eine andere war bei einem Erdbeben umgekommen. Eine vom Unheil verfolgte Familie. Diese Frau musste die jüngste von ihnen sein.
Plötzlich riss Madge ihn aus seiner Grübelei. Während die Gespräche rundum weiterplätscherten, berührte sie seine Hand unter dem Tisch und machte eine fast unmerkliche Kopfbewegung nach links.
»Das ist er«, sagte sie.
Mr Sattersway nickte kurz zum Zeichen, dass er verstanden hatte. Also hatte sie sich den jungen Graham ausgesucht. Nun, dem ersten Eindruck nach – und Mr Sattersway war ein kluger Beobachter – hätte sie gar keine bessere Wahl treffen können. Ein angenehmer junger Mann, der mit beiden Beinen im Leben stand. Sie würden ein feines Paar abgeben: anständige, fröhliche junge Menschen, ohne Flausen im Kopf.
Nach dem Essen verließen die Damen den Raum, denn in Laidell hielt man noch an althergebrachten Formen fest. Mr Sattersway rückte zu Graham auf und versuchte, ihn ins Gespräch zu ziehen. Im Großen und Ganzen fand er seinen ersten Eindruck bestätigt, trotzdem schien etwas nicht recht mit dem Bild übereinzustimmen, das er sich von dem jungen Mann gemacht hatte. Roger Graham wirkte fahrig und zerstreut, und seine Hand zitterte, als er sein Glas absetzte.
Irgendwo drückt ihn der Schuh, dachte Mr Sattersway. Sicher ist alles nur halb so schlimm, wie er glaubt, aber dennoch wüsste ich gern, was ihn so beschäftigt.
Mr Sattersway pflegte nach den Mahlzeiten
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