Der seltsame Mr Quin
zwei Verdauungstabletten einzunehmen, hatte aber vergessen, sie mit herunterzubringen und musste sie aus seinem Schlafzimmer holen. Wieder im unteren Stock angekommen, ging er durch einen langen Flur auf das Wohnzimmer zu und kam dabei auf halbem Wege an einem Raum vorbei, der das Terrassenzimmer hieß. Er warf einen Blick durch die offene Tür und blieb stehen.
Das Mondlicht strömte durch die in kleine Rechtecke unterteilten Fensterscheiben und warf ein sonderbar regelmäßiges Muster auf den Fußboden. Auf der niedrigen Fensterbank saß eine leicht zur Seite geneigte Gestalt und zupfte sacht die Saiten einer Ukulele, nicht in einem Jazzrhythmus, sondern in einem uralten Takt – wie das Trappeln von Zirkuspferden, dachte Mr Sattersway.
Er blickte gebannt zu ihr hinüber. Ihr Kleid aus blauem Chiffon mutete ihn mit seinen Rüschen und Falten wie das Gefieder eines Vogels an. Sie saß über ihr Instrument gebeugt und sang mit verhaltener Stimme.
Langsam, Schritt für Schritt, ging er auf sie zu. Als sie aufblickte, war er schon beinahe an ihrer Seite, aber sie schien nicht überrascht oder erschrocken.
»Hoffentlich störe ich nicht«, sagte er.
»Setzen Sie sich doch, bitte!«
Er ließ sich auf einem polierten Eichenstuhl in ihrer Nähe nieder, und sie summte wieder leise vor sich hin.
»Heute Abend ist alles wie verzaubert«, sagte sie nach einer Weile. »Finden Sie nicht?«
Ja, es war ein seltsamer Abend.
»Die anderen haben mich gebeten, meine Ukulele zu holen«, erläuterte sie. »Aber als ich hier vorbeikam, wollte ich zuerst noch ein wenig allein sein, ganz für mich, in der Dunkelheit beim Mondschein.«
»Dann sollte ich…« Mr Sattersway hatte sich schon halb erhoben, aber sie hielt ihn zurück.
»Nein, gehen Sie nicht. Sie stören mich nicht, wirklich nicht! Eigenartig, aber Sie gehören irgendwie dazu.«
Er setzte sich wieder.
»Heute Nachmittag hatte ich auch schon ein merkwürdiges Erlebnis«, sagte sie. »Ich ging noch etwas im Wald spazieren und sah plötzlich einen Mann zwischen den Bäumen – einen großen, dunklen Mann. Einen solchen Menschen habe ich noch nie gesehen. So stellt man sich verlorene Seelen vor. Die Sonne ging gerade unter, und in diesem Licht – wie er da zwischen den Bäumen umherwanderte –, kam er mir wie eine Art Harlekin vor.«
»Ach«, sagte Mr Sattersway und beugte sich gespannt vor.
»Ich wollte ihn ansprechen, er sah einem meiner Bekannten sehr ähnlich, aber dann war er auf einmal im Dickicht verschwunden.«
»Ich glaube, ich kenne ihn«, sagte Mr Sattersway.
»So? Eininteressanter Mensch, nicht wahr?«
»Ja, das ist er.«
Eine Weile saßen sie stumm beieinander. Mr Sattersway überlegte, was er nun tun sollte. Das Erlebnis des Mädchens schien ein deutlicher Fingerzeig, dass er handeln sollte, und seine Aufgabe hatte sicher etwas mit diesem Mädchen zu tun – aber was? »Manchmal, wenn man unglücklich ist, möchte man allein sein«, sagte er tastend.
»Ja, das ist schon wahr.« Dann begriff sie: »Ach so, Sie meinen mich? Nein, bei mir ist es genau umgekehrt. Ich wollte allein sein, weil ich glücklich bin.«
»Glücklich?«
»Schrecklich glücklich!«
Obwohl sie es leise gesagt hatte, zuckte Mr Sattersway beim Ton ihrer Stimme unwillkürlich zusammen. Was dieses sonderbare Mädchen unter Glücklichsein verstand, war offenbar ein ganz anderes Gefühl, als jenes, das Madge Keeley mit demselben Wort bezeichnet hätte. Für Mabelle Annesley bedeutete Glück eine verzehrende, ungezügelte Ekstase – etwas, das über das menschliche Maß hinausging.
»Das – das wusste ich nicht«, sagte er linkisch.
»Nein, wie sollten Sie auch. Und – wirklich glücklich bin ich noch nicht. Ich weiß nur, dass ich glücklich sein werde – bald.« Sie beugte sich vor. »Ich weiß nicht, ob Sie das Gefühl kennen. Es ist, wie wenn man mitten in einem Wald umherirrt – einem großen, dichten Wald voll dunkler Schatten, und man weiß nicht, ob man je wieder hinausfindet –, und dann, ganz plötzlich, lichten sich die Bäume, und man sieht das Land seiner Träume vor sich, leuchtend und schön. Man muss nur noch ein paar Schritte tun, und man ist da.«
»So vieles sieht von Weitem schön aus«, sagte Mr Sattersway. »Manche der grauenvollsten Dinge auf der Welt scheinen uns zunächst am schönsten.«
Schritte näherten sich, und Mr Sattersway wandte sich um. Ein blonder, dumm – fast stumpf – aussehender Mann stand im Türrahmen. Es war der Mann, den er
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