Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Semmelkoenig

Der Semmelkoenig

Titel: Der Semmelkoenig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Hirschel
Vom Netzwerk:
offenbar für ein Dach oder eine Decke bestimmt waren. So genau konnte er es von seiner Position aus nicht sehen. Jetzt war alles in ein Silbergrau getaucht. Das Tiefschwarz der dunklen Ecken wurde vom Mondlicht durchdrungen und Hannes konnte mehr erkennen. Ah, das dort musste eine Tür sein. Vielleicht konnte er dorthin robben? Schließlich war er momentan ja eine Art großer Seehund.
    Als er aber dann den ersten Versuch startete, musste Hannes im Geiste revidieren. Nein, er war kein Seehund, sondern vielmehr ein plumpes, ungelenkes Walross. Trotzdem zog er erneut die Knie so weit wie möglich an und stieß sich ab. Ja, schon wieder waren ein paar Zentimeter gewonnen. Nochmal! Und nochmal! Hannes konnte ein Husten nicht mehr unterdrücken. Er hatte zu viel Staub eingeatmet. Schnell presste er sein Gesicht auf den Boden, um das Geräusch abzudämpfen. Er wollte keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen; sich noch nicht seiner Entführerin in Erinnerung rufen.

137
    Holpernd kämpfte sich der Manta tapfer einen Feldweg entlang. Claudia blickte auf die Uhr. Sie waren mittlerweile schon fast eine halbe Stunde unterwegs. Davon waren sieben Minuten unsinnigerweise beim Verfahren draufgegangen. Verflixt! Um ihre Nervosität zu verbergen, schob sie die Hände in die Jackentaschen und starrte aus dem Fenster. Eine Weide zog an ihnen vorbei. Was da wohl draufstand? Vielleicht Kühe? Im Scheinwerferlicht vor ihnen tauchte ein Fuchs auf, blieb stehen und wollte sich nicht mehr rühren. Erika drückte energisch auf die Hupe. Das Tier machte einen Satz und verschwand in der Dunkelheit.
    »Des blöde Viehzeug hat mir grad noch gefehlt!«, schimpfte Erika.
    »Der war aber voll süß!«, konnte Wolfgang seine Begeisterung nicht zügeln.
    »Süß kann der sein, wo er hingehört. Im Wald und nicht unter meinen Vorderreifen!«, knurrte Erika.
    »Alte Bissgurken!«, kam es leise von hinten.
    Dann schwiegen wieder alle und nur der altersschwach aufheulende Motor – denn eine Steigung war vor ihnen aufgetaucht und musste mit Schwung genommen werden – war zu hören.

138
    Schritte! Verflixt! Und jetzt wurde der Hustenreiz auch noch schlimmer. Hannes gab auf und drehte seinen Kopf wieder zur Seite, um wenigstens genug Luft zu bekommen. Er sah das Licht einer Lampe schnell auf sich zukommen. Einige Sekunden später wurde diese neben seinem Kopf abgestellt. Hannes war wirklich dankbar, endlich wieder etwas zu sehen, auch wenn der Radius nur auf die unmittelbare Nähe seines eingeschränkten Gesichtsfelds begrenzt war. Da lagen ein paar Kronkorken, kleine Steinchen und etwas Schwarzes – vielleicht Rattenkot. Schnell richtete er sein Augenmerk auf die Person vor ihm. Frauenschuhe! Hannes stutzte. Waren das etwa Flamencoschuhe?
    Plötzlich fühlte er sich in seine Zeit in Andalusien zurückversetzt, als er als junger Polizist ein paar Monate in Sevilla verbracht hatte. Genervt von den hohen Trompetenstimmen seiner Nachbarn, die sich gerne laut und pausenlos unterhalten hatten, hatte er es eines Nachmittags nicht mehr ausgehalten und war trotz vorgeschriebenen Siesta-Gebots spazieren gegangen. Ziellos war er durch die leeren Gassen gelaufen, um eine Ecke gebogen und hatte sie entdeckt: Seine erste Leiche!
    Zuerst war ihm nur die umgestoßene Mülltonne aufgefallen und er hatte, von Neugier gepackt, um diese herumgeschaut. Dann hatte er die Schuhe und die Beine in zerrissenen Strümpfen gesehen. Carmen! Carmen Maria Pillar Lopez Fernandez: Mutter zweier Kinder, Aushilfe in einer Tapas-Bar – dort für den Nachschub an trockenen Käse-Schinken-Baguettes verantwortlich – und hochtalentierte Tänzerin der erfolgreichsten Flamenco-Gruppe Sevillas – den »corazón gitana« – war zu diesem Zeitpunkt bereits seit fünf Stunden tot. Er hatte also nichts mehr für sie tun können. Im Laufe der Ermittlungen – die leider erst verspätet eingesetzt hatten, weil ja noch Siesta war! – war herausgekommen, dass hinter der ganzen tragischen Geschichte die Mitglieder einer konkurrierenden Tanztruppe gesteckt hatten. Gemeinsam hatten sie der armen Carmen aufgelauert und sie gemeuchelt, denn – so hatten sie es sich zumindest erhofft –, wenn die schärfste Kontrahentin nicht mehr gegen sie hätte antreten können, hätten sich ihre Chancen auf den alljährlichen, hochdotierten Flamencopreis vergrößert.
    Hannes blinzelte. Sollte Carmen jetzt von den Toten auferstanden sein, um ihn daran zu erinnern, dass er ihr damals nicht wirklich hatte helfen

Weitere Kostenlose Bücher