Der Semmelkoenig
der Hausbewohner verziert war. Der Schlüsselhaken »Heidi« war leer. Bedächtig wandte sich der Kommissar der kleinen Treppe zu und stieg in den ersten Stock, der gleichzeitig auch das Dachgeschoss war. Eng, aber gemütlich, dachte er. Hier hatten bestimmt schon einige Blum’sche Generationen vermutlich zur gleichen Zeit gelebt. Auch er war mit der Großmutter, seinen Eltern, seinem Bruder und einer unverheirateten Tante auf ähnlich vielen Quadratmetern aufgewachsen, ein Umstand, den sich heute keiner mehr so recht vorstellen konnte.
Nostalgisch geworden blieb Maus einige Sekunden oben in der kleinen Diele stehen. Hier gab es genau drei Türen. Die vor ihm war es nicht, das wüsste er noch. Also eine der beiden anderen. Aber welche? Rechts oder links? Da er ein Mann der Tat und nicht der Orientierung war, entschied er sich für rechts. Die Sonne, die durch ein kleines Fenster hereinfiel, wurde sofort von der dunklen Tapete geschluckt, sodass er erst einmal den Lichtschalter suchen musste, um überhaupt etwas sehen zu können.
Was für ein Chaos! Wäre er beim Einbruchsdezernat gewesen, hätte Maus hier eindeutig die klassischen Spuren eines gewaltsamen Eindringens festgestellt, aber als Onkel von zwei Neffen und einer Nichte im Teenageralter erkannte er sofort, dass es sich um ein Jugendzimmer handelte. Kleidungsstücke, CDs, Zeitschriften, Schuhe und ein leerer Pizzakarton bedeckten den Boden, der Computer surrte in der Ecke auf etwas, was vermutlich ein kleiner Tisch gewesen wäre, wenn man ihn mal aufgeräumt hätte. Der Schrank stand offen, das Bett war zerwühlt. All das nahm Maus jedoch nur am Rande wahr, denn sein Blick blieb an einer großen Fahne mit einem Hakenkreuz hängen, die im Vergleich zu den zahlreichen Postern mit grimmig schauenden Popstars – vermutlich weil sie alle kahlgeschoren waren und auf der Glatze froren – akkurat aufgehängt war und den ganzen Raum dominierte. Das konnte unmöglich Heidis Zimmer sein! Angewidert drehte er sich um und versuchte sein Glück bei der Tür gegenüber.
Ja, hier war er richtig. Der zweite Raum hatte zwar die gleiche Größe, unterschied sich aber in allem von seinem bösen Zwilling gegenüber. Maus atmete auf, schloss die Tür und sah sich um. Die Mutter hatte nicht gelogen, Heidi war von Natur aus wirklich eine sehr ordentliche Person gewesen. Eigentlich hatte Maus eher damit gerechnet, dass sich Heidis Leben als notorische Schulschwänzerin auch in ihrem Zimmer widerspiegeln würde, aber hier herrschten Perfektion und penible Sauberkeit. Alles war exakt geordnet. Schlecht für die Spurensicherung, dachte Maus und ging seufzend ans Bett. Zumindest konnte man hier eine romantische Ader der Verstorbenen erkennen: eine zartrosa Tagesdecke harmonierte mit einer pinken Tapete, ein kleiner Nachttisch, eine hübsche Leselampe, ein Buch. Vor dem Fenster stand ein kleiner Schreibtisch, ein rosafarbenes Notebook genau auf dessen Mitte; zugeklappt, ansonsten nichts; noch nicht mal irgendwelche Schmierzettel. Der Computer würde im Labor untersucht werden müssen. Maus öffnete die Schreibtischschublade: ein paar Schulhefte, zwei Kugelschreiber. Beim Durchblättern der Hefte fiel auf, dass Mathematik und Englisch nicht zu ihren Stärken gehört hatten. Wo war denn der Schulranzen? Im Schrank wurde der Kommissar fündig. Aber außer einiger Bücher und einem Schreibblock konnte er nichts Persönliches finden. Die jungen Leute schienen heutzutage nichts mehr zu notieren. Für Maus war das eine schlechte Angewohnheit, die die Arbeit der Polizei vorsätzlich behinderte. Tja, was früher das gute alte Tagebuch, eine Einladung, ein Liebesbrief und so fort waren, waren heute eben E-Mails und Nachrichten über das Handy. Letzteres hatte sie vermutlich mitgenommen, aber dann entweder verloren oder es war vom Mörder beseitigt worden. Er hoffte, dass Hubschmied und Petersen es trotzdem finden würden. Langsam ließ er seine Finger über die nach Farben und Jahreszeiten geordneten Kleidungsstücke gleiten. Ein blumiger Duft entströmte ihnen. Sehr gut zusammengelegt musste er anerkennend feststellen. Er zog die Schubladen auf. Damenunterwäsche! Einige Sekunden zögerte er, dann vergruben sich seine Hände in den hauchzarten Stoffen, um zu ertasten, ob unter ihnen etwas Brauchbares war. Ihm persönlich war Baumwolle lieber. Aber abgesehen von dieser Überlegung wurde Maus auch hier nicht fündig.
Gedankenverloren blieb er vor dem letzten Möbelstück, einem kleinen
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