Der Semmelkoenig
Schminktisch, stehen. Hier waren Nagellack, Cremetiegel, Lidschatten, Parfümfläschchen und das andere Zeug, das Frauen so dringend brauchten, nach Größen geordnet. Kein Fleckchen auf dem Tisch, kein Staubkorn auf dem Spiegel. Eigenartiges Mädchen! Wenn nicht die Poster und aus Hochglanzmagazinen ausgeschnittene Bilder an der Wand gehangen hätten, auf denen diverse junge Frauen, mager und hohlwangig in verschiedenen Posen und auf Laufstegen hungrig dahinstaksend, abgebildet waren, hätte Maus wahrscheinlich annehmen müssen, wieder im falschen Zimmer gelandet zu sein. Tja, dann blieb nur noch der Boden. Ächzend ließ sich der Kommissar auf die Knie sinken und spähte fast auf dem Bauch liegend unter das Bett. Die Hoffnung, hier vielleicht eine Wollmaus zu finden, wurde im Keim erstickt. Sauber! Das sollte mal seine Frau sehen! Schwerfällig ging er wieder auf die Knie. Hm, hier gab es nichts. Also, dann war er wohl fertig: Den Computer mitnehmen und dann blieb nur noch, Steffi einzusammeln und ins Kommissariat zurückzufahren. Die Befragung der Nachbarn würde er dann von dort aus in die Wege leiten. Wem sollte er denn die neugierige Nachbarin Frau Wieland zumuten? Ein Grinsen legte sich auf seine Lippen. Na dem- oder derjenigen, der oder die ihn heute noch am meisten ärgern würde. Sein Blick blieb an dem Buch auf dem Nachttisch hängen. Was liest so ein junges Ding denn da eigentlich? Der Umschlag war alt und fleckig – also kein Ratgeber für Models und Popstars. Neugierig ergriff er das Buch. Grimms Märchen, das war ja interessant – und noch dazu eine schöne Ausgabe mit wunderbaren Bildern. Maus, ein Kenner von alten Büchern, begann andächtig, darin zu blättern.
So vertieft in seine Lektüre war es kein Wunder, dass sein Reaktionsvermögen etwas beeinträchtigt war. Die Tür wurde so plötzlich aufgerissen, dass er keine faire Chance hatte. Ein Wutgebrüll, ein menschlicher Berg – Muskeln, Körpermasse –, ein Tornado stürzte sich auf ihn. Entsetzt blieb dem Kommissar nichts anderes übrig, als sich niedergedrückt auf dem Boden einem gefährlich blitzenden Augenpaar und schlechtem Atem gegenüberzusehen. Er bekam fast keine Luft mehr, denn ein Unterarm, so dick und hart wie ein Baumstamm, drückte sich auf seine Kehle.
»Du Schwein!«, zischte der Angreifer und ein Speichelsprühregen legte sich auf Maus Gesicht, das langsam eine bläuliche Farbe annahm. »Du mieses Schwein! Ich hab’s doch klar gemacht, dass ihr geilen alten Säcke hier nichts zu suchen habt!«
Jetzt war es aber genug! Der Kommissar packte den Arm und versuchte, sich zu befreien, bevor er erstickte. Ein Gerangel entstand. Der Schminktisch fiel um, Puder und Lidschatten, kombiniert mit einer zerbrochenen Parfümflasche, bildeten schnell eine farbenfrohe, duftende Mischung, in der sich die beiden Männer wälzten. Maus Gegner war zwar stärker und jünger, aber nicht unbedingt geschickter. Träge durch seine Masse gelang es ihm nicht, den Kommissar weiter auf den Boden festzudrücken. Leider konnte Maus aber auch nicht allzu viele Punkte sammeln, denn der Hass des Jüngeren war eine gefährliche Motivation. Er würde mich am liebsten umbringen, schoss es Maus durch den Kopf. Seine Hand ertastete das Märchenbuch. Eine Waffe! Schade eigentlich, aber er hatte keine andere Wahl! Dumpf sausten Grimms Sammlungen auf den kahlrasierten Schädel des Angreifers. Verdutzt schauende Schweinsäuglein, aber sonst war da keine großartige Wirkung. Verdammt, konnte man diesen hirnlosen Arier nicht aufhalten? Offensichtlich nicht, denn der Schlag schien ihm eher ein Ansporn. Erneut setzte das Wutgebrüll ein und Maus sah seine letzten Sekunden gekommen.
»Sebastian!«
Eine scharfe Stimme ertönte von der Tür, jedoch leider nicht laut genug, denn nur dank Steffis heldenhaftem Sprung auf den Rücken des Goliaths, dessen Gleichgewicht dadurch gestört wurde, konnte Maus den Rasenden mit einem Kinnhaken zumindest für ein paar Sekunden stoppen. Zeit genug, damit Frau Blum noch einmal versuchen konnte, in dem Tumult Gehör zu finden.
»Sebastian! Das reicht! Lass den Kommissar in Ruhe!«
Langsam drehte sich der Angesprochene, die immer noch an seinem Rücken hängende Steffi ignorierend, um.
»Wie jetzt, Kommissar? Hast du Schlampe auch bei den Bullen was laufen?«
Er verstummte. Offensichtlich arbeitete sein Gehirn auf Hochtouren.
»Ja, sagen Sie mal, wie reden Sie da eigentlich mit der Dame!«, ertönte Steffis berechtigt empörter
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