Der Semmelkoenig
war auch ein Traum. Das Bärenfell, die Stoßzähne, der Nashornschädel, die ausgestopften Leoparden und das Krokodilgebiss waren eindeutig Geschmackssache und ein Fall für die Zollbehörde und den Artenschutz. Möller konnte zwar eine Berechtigung als Großwildjäger haben, trotzdem lag über allem der Hauch des Illegalen. Die Farben Rot, Weiß und Chrom – wenn das denn eine Farbe war – dominierten den Raum. Das Gefühl, eine exotische retro 70er-Liebeshöhle entdeckt zu haben, erregte Hannes und machte ihn leicht schwindlig. Er blickte zur Zimmerdecke und stellte zufrieden fest, dass sich über dem Bett ein Glasdach befand, durch das man die Tannen und den Himmel sehen konnte. Dunkle Wolken türmten sich auf. Ein Gewitter zog heran. Hannes hatte bereits gehört, dass das in den Bergen sehr schnell passieren konnte. Die schwarze Front, die rauschenden Wipfel, ein Eichhörnchen, das hektisch noch schnell Unterschlupf suchte, kombiniert mit der Sicherheit des Raumes, vermittelten eine anheimelnde Atmosphäre. Es musste wunderbar sein, hier zu übernachten. Am besten in den Armen einer aufregenden Frau. Verträumt ließ Hannes seinen Gedanken freien Lauf. Aus dem Erdgeschoss ertönte ein herzzerreißendes Jaulen.
20
Claudia Hubschmied fluchte leise. Zuerst war sie den Weg zur Hütte entlanggelaufen und dann auf eine kleine Anhöhe geklettert. Nichts! Sie hatte noch immer keinen Empfang. Wind kam auf. Besorgt schaute sie in den Himmel. Das Gewitter näherte sich verdammt schnell. Einige Blitze zuckten kurz hintereinander auf. Claudia wartete und zählte die Sekunden. Es donnerte. Der Wind wurde stärker. Das Unwetter war höchstens fünf Kilometer entfernt.
»Ich muss wohl zurück«, sprach sie zu sich selbst. Aber ihr Ehrgeiz war größer. Kurzentschlossen wandte sich die Kommissarin nach links und lief in die entgegengesetzte Richtung, weil sie sicher war, nach der Biegung wieder Netz zu haben. Langsam wurde es wirklich dringend, denn sie musste das Revier von dem zweiten Mordfall in Kenntnis setzen.
21
»Danke, Frau Wieland, aber ab jetzt übernehme ich!«
Erika, nachdem sie gleichzeitig mit dem Arzt angekommen war, hatte kaum Zeit, sich endlich um ihre bedauernswerte Freundin zu kümmern, weil sie gleich von der schnatternden Nachbarin in Beschlag genommen wurde. Sonst eigentlich die Ruhe selbst und in jeder Lage fähig, mit nervenaufreibenden Personen umzugehen, war nun ihre persönliche Grenze erreicht, die sich in der neugierigen Frau Wieland manifestierte. Ihr Gehirn schaltete automatisch auf den Stand-by-Modus. Sie sah die alte Frau an, deren Mund auf- und zuging, ohne dass die daraus strömenden Worte zu Erika durchdrangen. Das Gefühl, irgendwie Mitschuld an Heidis Tod zu tragen – denn sie hatte der Tochter ihrer Freundin den Praktikumsplatz schließlich vermittelt – und das ständig wachsende schlechte Gewissen, sich deswegen nicht gleich um Sandra gekümmert zu haben, konnten nicht mehr beruhigt werden. Ihre anfänglichen Ausreden und vorgeschützten – teilweise unnötigen – Aktionen machten ihren Seelenzustand aus diesem Blickwinkel nur noch schlimmer. Natürlich hatte sie zuerst einmal die Eltern informieren, die Kinder beruhigen, die Mitarbeiter instruieren oder trösten müssen. Und dann kam noch dieser unnötige Streit mit Anni hinzu. Anni, diese merkwürdige Frau, mit der sie jetzt schon zwölf Jahre zusammenarbeitete, ohne jemals persönlich zu ihr durchgedrungen zu sein, war ausfallend geworden und nachdem sie sich nicht mehr gegen Erikas Argumente zu wehren vermocht hatte, war sie einfach in den Wald gerannt. Was hätte sie denn anderes tun sollen, als ihr zu folgen? Dieses Biest!
Da war natürlich auch Zeit vergangen. Zeit, in der sie versucht hatte, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen, und als das nicht funktioniert hatte, wenigstens wieder ihr inneres Gleichgewicht zu finden. Und schließlich wollten ja auch noch die Einkäufe fürs Wochenende gemacht werden. Dass sie sich dabei besonders sorgfältig über jedes Sonderangebot informiert und dann extra die längste Schlange an der Kasse genommen hatte, war im Nachhinein betrachtet der offensichtlichste Verrat an den Pflichten einer guten Freundin. Sie wollte nicht an sie denken. Sie wollte nicht wissen, wie es ihr ging. Sie wollte endlich ihre Ruhe haben. Sie hatte doch alles getan, um die Welt in geordneten Bahnen zu halten.
Solange sie denken konnte, war es immer Sandra gewesen, die ihr strukturiertes Leben
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