Der Semmelkoenig
schinden, ließ sie ihren Zeigefinger im Rhythmus eines Abzählreims über die Schlägerköpfe, die aus der Tasche lugten, hüpfen. Andreas kam schnell aus der Hocke hoch, trat neben sie und hielt ihre Hand fest.
»Claudi! Du machst mich grad etwas nervös!«
Diesen Vorwurf hatte sie verdient. Irgendwie machte sie unbewusst alle Menschen nervös. War das vielleicht der Grund, warum Georg mit einer anderen Frau schlief? Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie wollten schon zu lange geweint werden, nur hatten sie die ganze Zeit gut zurückgehalten werden können. Und so sollte es auch bleiben! Wütend biss sie sich auf die Unterlippe.
»Den da, nimm doch den da. Der glänzt so schön!«
»Den nehm ich ganz bestimmt nicht, Claudi, das ist ein Sand Wedge.«
Besorgt und fast ängstlich beobachtete er ihr Gesicht. Es war offensichtlich, dass etwas sehr Unangenehmes passiert sein musste. Seine Schwägerin in spe war eigentlich immer eine starke und vor allem unabhängige Frau. Für seinen Geschmack zu stark und manchmal zu direkt, aber sie tat Georg gut. Der flatterhafte Tunichtgut, der nie mit seinem Leben etwas Sinnvolles anzufangen gewusst hatte, war durch seine Beziehung zu Claudia geerdeter, weniger egoistisch und sogar ein bisschen verantwortungsbewusst geworden. Aber was war denn nun passiert? Sie sah plötzlich so hilflos, verletzt, ja fast verzweifelt aus. Es war ihm sehr unangenehm, derjenige zu sein, der einen kurzen Blick hinter ihre Maske aus Stärke und Selbstsicherheit werfen durfte.
Andreas hatte noch nie mit Gefühlen umgehen können; weder mit seinen eigenen – und die waren deswegen schon seit seiner Kindheit irgendwo in den Tiefen seines Herzens mit hundert Vorhängeschlössern weggesperrt worden – noch mit denen von anderen. Emotionen bedeuteten für ihn Chaos, Verwirrung und Schwäche. Sie durften auf keinen Fall freigelassen werden. Das war sein Grundsatz, mit dem er eigentlich immer gut gefahren war. Durch ihn war es ihm gelungen, sich vom einfachen Buchhalter zum Leiter einer großen Firma hochzuarbeiten. Fleiß, Disziplin und Ehrgeiz waren sein Antrieb und er hätte es nie geschafft, wenn er sich gefühlsmäßig eine Schwäche erlaubt hätte. So war sein Leben, so war seine Ehe und so sollte es auch bleiben. Lediglich auf dem Golfplatz konnte er etwas aus sich herausgehen, sich eine Pause gönnen und ausgerechnet hier, wo er sich einmal erlaubte, ein Mensch zu sein, musste ihn Claudia heimsuchen und ihm mit einem bevorstehenden Nervenzusammenbruch drohen.
Resigniert zuckten seine Mundwinkel nach unten. Er setzte unbewusst den Gesichtsausdruck für besonders harte Verhandlungen auf, denn es half alles nichts. Der Stier musste bei den Hörnern gepackt werden. Länger warten lohnte sich nicht. Erst wenn er wusste, was eigentlich passiert war, konnte er mit Logik und gutem Rat helfen.
»Sag schon, ist es wegen Schorschi?«
Claudia blickte ihn erstaunt an. Andreas war wirklich gut! Er traf anscheinend immer den Nagel auf den Kopf. Plötzlich fühlte sie sich besser. Sie hatte einen Profi an ihrer Seite. Den besten Mann, den sie für ihre schwierige Situation bekommen konnte. Das war der Beichtvater, den sie intuitiv aufgesucht hatte. Sie lächelte und Andreas entspannte sich sofort.
»Ja, du hast recht, es is wegam Schorschi. Ich bin mir zu 90 Prozent sicher, dass er eine Affäre hatte.«
»Nur zu 90 Prozent?«, erwiderte Andreas bitter. »Nicht 210 Prozent wie bei Sybille?«
Nun war es an Claudia, große Augen zu machen.
»Was? Sybille? Aber ich dachte, sie tut nur so, weil du manchmal – nun, wie soll ich sagen – na, weil du manchmal schon etwas kühl und abweisend bist …«
»Glaub mir, ich bin sicher. Aber keine Sorge, es stört mich nicht weiter. Hm, und in deinem Fall? Tja, was soll ich sagen? Es liegt wohl in der Familie.«
Claudia schüttelte den Kopf. Wie hatte sie nur so blind sein können? Natürlich hatte er recht.
»Verdammt! Dieses Schwein! Oh, wenn ich ihn jetzt vor mir hätte, dann …«, flammender Zorn kochte in ihr auf.
»Ruhig, Claudi, bleib ganz ruhig!«
Sie hatte das 5er Eisen aus dem Golfwagen gezerrt und Andreas war sich nicht so ganz sicher, ob sie es in Ermangelung des wahren Schuldigen nun bei ihm – stellvertretend für alle Männer – einsetzen würde. Er musste sie sofort wieder in den Griff bekommen, deshalb argumentierte er schnell.
»Es ist ja noch nicht ganz bewiesen. Du hast immer noch deine 10 Prozent! Vielleicht ist es doch nur ein dummes
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