Der Sichelmoerder von Zons
Nervenbahnen. Blind tastete Anna mit der Hand auf ihrem Nachttisch herum und versuchte, das störende Ding in die Finger zu bekommen. Doch der Wecker schien ihrer suchenden Hand auszuweichen. Sie brauchte eine gefühlte Ewigkeit, bis ihr Zeigefinger es endlich schaffte, die erlösende Stummtaste zu drücken. Mit einem tiefen Seufzer ließ Anna sich erschöpft zurück in die Kissen fallen. Nein, die Nacht konnte unmöglich schon vorüber sein. Doch die hellen Sonnenstrahlen, welche verspielt durch die kleinen Ritzen ihrer Jalousien lugten, straften sie Lügen. Verdammt, es war helllichter Tag. Trotzig zog sie sich ihre Bettdecke über das Gesicht und versuchte das Licht auszusperren. Sie konnte noch nicht aufstehen. Ihr Kopf dröhnte und ihr ganzer Körper gab ihr unmissverständlich zu verstehen, dass die Nacht für ihn noch nicht beendet war. Anna atmete tief aus und schielte dann mit einem Auge unter der Bettdecke hervor. Emily lag direkt neben ihr im Bett und schnaufte friedlich vor sich hin. Gesegnet sind die Studenten, die immer und überall ungestört schlafen können, egal wie laut ein Wecker auch klingeln mag.
Anna rieb sich müde die Augen. Obwohl sie jetzt schon seit drei Jahren bei einer großen Düsseldorfer Bank arbeitete, hatte sie sich immer noch nicht an den Rhythmus gewöhnt. Das regelmäßige frühe Aufstehen lag ihr überhaupt nicht. Sie hatte vor Kurzem über eine Schlafstudie einer bekannten Universitätsklinik gelesen, in der man bestätigt hatte, dass es zwei Typen von Schläfern gab. Die Lärchen, die morgens mit dem ersten Sonnenstrahl munter und hellwach herumspringen und die Eulen, die erst gegen Mittag richtig in Fahrt kommen und vorher eigentlich nicht wirklich zu gebrauchen sind. Diese zwei Schlaftypen seien genetisch bereits im Mutterleib festgelegt und Anna war sich sicher, dass sie eine Eule war.
Nach den zwei Flaschen Rotwein, die sie gestern Nacht gemeinsam mit Emily getrunken hatte und stundenlangen Internetrecherchen für die neue Reportage über Zonser Serienmörder im Mittelalter, fühlte sich ihr Kopf wie eine matschig gewordene Birne an. Wie häufig nach übermäßigem Alkoholgenuss, hatte Anna einen sehr realen Traum gehabt. Immer wieder sah sie dieses Gemälde von Bastian Mühlenberg und seiner Frau, Marie, vor sich. Wieder und wieder durchlebte sie die tiefe Irritation, als sie feststellte, dass es Bastian Mühlenberg in der Gegenwart nicht gab. Immer wieder durchträumte sie jede einzelne Begegnung mit ihm, so auch ihre Letzte. Den Abend, an dem er sich mit ihr unbedingt am Mühlenturm in Zons treffen wollte. Der Abend, der um ein Haar der Letzte ihres Lebens geworden wäre. Doch Bastian hatte sie davon abgehalten, in ihr Appartement zu gehen, wo der Puzzlemörder schon auf sie gewartet hatte.
Seit diesem Vorfall hatte sie Bastian Mühlenberg nicht wieder gesehen, doch in der letzten Nacht hatte sie wieder von ihm geträumt. Diesmal war sie sich sicher, dass es ein Traum war. Sie sah Bastian nicht in der Gegenwart, sondern in der Vergangenheit. Es war ein wirrer Traum. Schnell, dunkel und gefährlich. Bastian lief durch dunkle Gassen und sammelte silberne Schlüssel, die an einer Kette hingen. Sie sah einen todkranken Mann in einem Bett liegen. Er hatte große Ähnlichkeit mit Bastian. Doch er war es nicht. Sie sah Bastian traurig an seinem Bett sitzen. Er hielt seine Hand und schüttelte trotzig seinen blonden Schopf.
Sie erinnerte sich an den Moment, in dem er eine große alte verzierte Holztruhe aufsperrte. Fast spürte sie körperlich, wie schwer der alte Holzdeckel der Truhe war, als er sich knarrend öffnete. Dann verschwamm der Traum und sie erblickte eine Karte mit kryptischen Zeichen. Sekunden später stand sie in einem dunklen Gewölbe. Ihr Herz klopfte so laut, dass sie ihre eigenen Schritte nicht mehr hören konnte und sie hatte Angst, weil sie sich verlaufen hatte. Es war ein Labyrinth aus tausend dunklen Gängen, feucht und schmutzig. Ungeziefer lief ihr über die Füße und als sie es fast nicht mehr aushielt, stand Bastian plötzlich mit einer Fackel vor ihr und im nächsten Moment saßen sie bei einem Picknick am sonnigen Rheinufer. Sie erinnerte sich genau an den letzten Moment, als er sie mit seinen braunen Augen ansah. Er beugte sich ganz nahe zu ihr herüber. Sie spürte seinen warmen Atem auf ihrem Gesicht. Sie wollte ihn küssen, aber Bastian wollte ihr erst noch etwas zuflüstern. Sie hörte seine Worte, erkannte jedoch keinen Sinn in ihnen.
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