Der siebte Turm 01 - Sturz in die Dunkelheit
Müdigkeit fast ohnmächtig geworden. Er hatte aufgegeben, Millas aufrechte Haltung nachzuahmen und hing jetzt nur noch vornüber gebeugt da. Lediglich sein Schattenwächter stützte ihn leicht, obwohl er sich nicht richtig traute. Immerhin hatte man ihm befohlen, sich wie ein natürlicher Schatten zu benehmen, um die Eiscarls nicht zu verschrecken.
„Halten wir bald an?“, fragte Tal schließlich, als die Erschöpfung über seinen Stolz siegte.
„Ja“, sagte Milla. „Meiner Schätzung nach sind wir beinahe beim Lebenden Meer. Wir müssten bald die Selski sehen – ja, da ist schon das Glimmen.“
Sie zeigte in die Ferne und zog gleichzeitig an den Zügeln, um die Wreska etwas abzubremsen. Tal schaute in die Richtung, in die sie zeigte. Zuerst sah er nichts.
Doch als sie näher kamen, sah er, dass sich das Eis vor ihnen sanft bewegte. Dort in der Ferne und leicht unterhalb von ihnen leuchtete ein gedämpftes Licht, das den gesamten Horizont einzunehmen schien.
„Was ist das für ein Licht?“, fragte er.
„Kalakoi“, gab Milla zurück und formte den Daumen und einen Zeigefinger zu einem Kreis. „Es sind kleine… Dinger… vielleicht so groß und sie leben auf den Selski. Sie leuchten und locken Motten und Slepenish an, die von den Selski gefressen werden. Doch die Kalakoi fressen auch die Selski, wenn sie alt werden und nicht genügend von sich abkratzen.“
„Ah, und was sind die Slurpernich?“ Es wurmte Tal, dass er als Erwählter einer Natürlichen solche Fragen stellen musste, doch es war ihm wichtig.
„Slepenish“, korrigierte Milla ihn. „Sie ziehen immer vor den Selski her. Sie treten in Schwärmen aus zahllosen Einzeltieren auf, sogar noch mehr als die Selski. Die Slepenish kommen durch das Eis nach oben und wenn sie nicht von den Selski gefressen werden, gehen sie wieder durch das Eis hindurch zurück nach unten. Es wird erzählt, dass sie sich tief im Wasser in etwas anderes verwandeln und dort neue Slepenish gebären. Ich weiß nicht, ob das stimmt.“
„Wie sehen sie aus?“, fragte Tal unsicher. Die Beschreibung eines Wesens, das sich in riesigen Mengen durch das Eis bohrte, beruhigte ihn nicht gerade.
„Wie die Saite einer Harfe, aber man bekommt sie nie zu Gesicht“, sagte Milla. Ihr Bedürfnis, Tal wie Dreck zu behandeln und der Wunsch, ihr Wissen zu zeigen, schienen miteinander zu kämpfen. Die Angeberei siegte.
„Sie sind in Schwärmen unterwegs. Nicht wie Schneeflocken, eher in Form eines viereckigen Schwarms. Sie sind nicht gefährlich, aber wenn sie sich durch das Eis bohren, wird es brüchig. Deshalb bewegen wir uns niemals zwischen den verschiedenen Herden im Lebenden Meer. Wir überqueren nur die Lücken, die sich auftun. Wo Selski und Slepenish aufeinander treffen, ist immer offenes Wasser.“
Tal schwieg eine Weile und dachte über Millas Ausführungen nach. Der Schlitten fuhr jetzt etwas langsamer auf dem Eis. Das Leuchten wurde heller. Tal beobachtete es voller Unbehagen. Jetzt verstand er etwas besser, weshalb die Eiscarls die Selski-Herden als Lebendes Meer bezeichneten. Das Licht ihrer Herde schien die gesamte vor Tal und Milla liegende Welt zu beleuchten.
Plötzlich zog Milla hart an den Zügeln und rief die Namen der beiden vordersten Tiere. „Tarah! Rall!“
Die Wreska blieben schlitternd und scharrend stehen. Milla zog den größeren der beiden Speere aus dem Köcher am Schlitten. Die Spitze bestand aus einem scharfen Knochenstück von der Größe eines Unterarms.
„Was ist los?“, fragte Tal, holte seinen Sonnenstein hervor und hob ihn hoch. Doch er konnte nur das Leuchten in der Ferne sehen. Als jedoch die Wreska aufhörten zu schnauben, vernahm auch er ein tiefes Rumpeln. Es klang wie fernes Trommeln. Tief, laut und unaufhörlich.
„Ein abtrünniges Selski“, zischte Milla. Sie sprang hinunter auf das Eis und hob ihre Maske an, um besser sehen zu können. „Von der Herde getrennt. Wir müssen es wieder hineinbringen.“
Tal spähte in die Ferne. Etwas Dunkles war auf dem Eis zu erkennen. Er hatte es für einen Felsklotz oder einen kleinen Hügel gehalten. Jetzt sah er, dass es sich bewegte. Auf sie zu.
„Das ist ein Selski?“, fragte er erstaunt. Es war mindestens hundert Spannen lang und zwanzig hoch. Es war fast so groß wie ein Eiscarl-Schiff. Eine große, bullige, schwarze Masse, die in leuchtende Punkte eingehüllt war wie ein Muster am sternengefüllten Himmel über dem Schleier.
Es hob sich auf seine großen Vorderbeine –
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