Der siebte Turm 03 - Aenir - Reich der Schatten
dem gewaltigen Baumstamm geschnitzt. Doch es waren keinerlei Werkzeugspuren zu sehen. Keine Zeichen von Hobeln oder andere Hinweise darauf, dass Menschen diese Arbeit verrichtet hatten.
Milla wurde erst jetzt klar, wie riesig der Baum gewesen sein musste. Mindestens zehn- oder zwölfmal so hoch wie das Ruinenschiff. So hoch wie ein kleiner Berg.
Noch etwas anderes war seltsam: Ein leichter Brandgeruch lag in der Luft, so als hätte es erst kürzlich ein Feuer gegeben. Doch der Wald zeigte keinerlei Anzeichen eines Brandes. Alles, was Milla sah, war die natürlich geraute Oberfläche des Holzes und Abertausende von Jahresringen unter ihren Füßen.
„Du hättest mich nicht kitzeln dürfen“, sagte Odris beleidigt.
„Du hättest mich nicht über deine wahren Kräfte anlügen dürfen“, sagte Milla. „Los. Ich gehe nach unten.“
„Ich muss mich ausruhen“, sagte Odris. „Ich werde hier warten.“
„Mach doch, was du willst“, sagte Milla. Sie ging durch die Tür und verschwand.
Einen Moment später seufzte Odris und schwebte zur Tür. Sie steckte den Kopf hinein und zwängte dann ihre Schultern hindurch. Ihr Wolkenkörper blähte sich hinter ihr auf. Stück für Stück nahm ihr Körper eine neue Form an, bis sie länger und dünner war. Der Rest folgte ihrem Kopf und ihren Armen die Treppe hinab.
Eine Stunde später kam Odris den selben Weg wieder zurück, gefolgt von Milla. Sie hatten jedes Stockwerk des Turmes besucht und nichts Interessantes gefunden. Alle Räume waren leer. Das Eigenartigste war, dass es unten am Boden eine Tür gab. Eine offene Tür, durch die die Nanuchs aber nicht einmal versucht hatten einzutreten. Es waren immer noch zwanzig oder dreißig von ihnen in der Nähe, doch sie hatten nichts weiter getan, als Milla zu beobachten, während sie durch die offene Tür geschaut hatte.
Das beunruhigte das Eiscarl-Mädchen. Es musste einen Grund dafür geben, dass die riesigen Vögel sich nicht trauten, den Turm zu betreten. Vielleicht war es der Bau einer furchtbaren Kreatur, die bald zurückkehren würde. Oder vielleicht hielt der Geruch des verbrannten Holzes die Vögel ab. In den unteren Stockwerken war der Geruch stärker und doch gab es keinerlei Hinweise auf ein Feuer.
Da Milla beschlossen hatte, dass das Dach der sicherste Ort war, waren sie auch wieder nach oben geklettert. Wenn irgendeine Kreatur zum Turm zurückkehren würde, würden sie sie auf der Treppe hören. Und sie waren außer Reichweite der wartenden Nanuchs. Es schien so, als würde eine ausgewählte Abordnung der Vögel auf sie warten. Milla sah, wie die Vögel sich um den Stamm drängten.
Trotz allem fühlte Milla sich unwohl. Der Turm war ein zu guter Unterschlupf, um verlassen zu sein. In ihrer Welt würden alle möglichen Tiere und Insekten darin leben und Schutz vor den Elementen suchen.
Doch im Turm gab es keinerlei Lebewesen. Sie hatte nicht einmal eine Höhlenschabe oder eine Spinne gesehen.
„Wir werden hier bis zum Sonnenaufgang bleiben“, sagte sie schließlich zu Odris. „Wir werden ja sehen, ob die Nanuchs noch immer warten. Dann wirst du mich wieder tragen müssen.“
„Ich bin mir nicht sicher, ob ich das kann“, sagte Odris. „Ich glaube, ich habe zu viel Wasserdampf verloren. Ich muss wieder auftanken. Du musst doch auch Durst haben?“
Milla gab keine Antwort. Sie hatte in der Tat Durst und Hunger. Doch sie hatte schon ihr Leben lang gelernt, wie man Durst- und Hungergefühle ignorierte. Es war ein Jammer, dass sie die kleinen Nanuchs hatte wegwerfen müssen. Sie hätte eines davon roh essen können. Oder sie hätte versuchen können, mit ihrem Sonnenstein genug Hitze für ein Feuer zu erzeugen.
„Ich übernehme die erste Wache“, verkündete Milla. „Du wirst schlafen.“
Odris warf einen Blick zur Sonne. Sie war noch immer ein gutes Stück vom Horizont entfernt.
„Ich bin aber nicht müde“, sagte die Sturmhirtin. „Wir schlafen normalerweise nicht viel. Erst seit ich an dich gebunden bin, spüre ich überhaupt Müdigkeit.“
„Dann schlaf eben nicht“, sagte Milla. „Aber sei still.“
Odris schniefte. Sie wünschte sich wirklich, dass sie den anderen genommen hätte. Das war typisch für Adras. Er war nicht sonderlich klug, aber er hatte Glück.
Sie saßen noch eine Zeit lang schweigend da und horchten auf die Geräusche der Umgebung. Auch die Nanuchs ließen sich nieder und wurden bis auf ein gelegentlichen Schnabelklacken ruhig. Es gab andere, weiter entfernte
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