Der Siegelring - Roman
sie unterschiedliche Wege gehen würden. Aber erst mit ihrer Entscheidung, ihr Land zu verlassen, das die gemeinsame Klammer darstellte, gestand sie sich wirklich ein, dass sie und Rayan keine gemeinsame Zukunft hatten. Sie brauchte einen anderen Gefährten. Einen, der ihr in jeder Hinsicht gewachsen war, der wie sie Verantwortung zu tragen bereit war.
Einen wie Valerius Corvus.
Das Flämmchen flackerte, als sie entschlossen aufstand und zu ihrer Truhe ging. Unter den Kleidern zog sie das Beutelchen hervor, das ihren wenigen Schmuck enthielt. Die goldenen Fibeln, den Ring, den Valerius ihr geschenkt hatte, und den Siegelring mit dem eingeschnittenen kleinen Pferdchen. Ihn nahm sie heraus, steckte ihn sich an den Finger und betrachtete ihn mit einer Mischung aus Wehmut und Heiterkeit. Sie beugte sich noch einmal über die Truhe und zerrte das Lumpenbündel hervor, in dem der feste Lederbeutel steckte. Sie betastete den Inhalt, legte den Beutel aber doch wieder zur Seite. Es war noch nicht die rechte Zeit, seinen Inhalt ans Licht zu holen.
Stattdessen nahm sie den dicken Wollumhang vom Haken an der Wand und wickelte sich hinein. Bevor sie das Haus verließ, steckte sie jedoch auch ihren Dolch in den Gürtel.
Das nördliche Törchen war nicht verriegelt, was sie etwas wunderte, und sie ließ es angelehnt, als sie hinausschlüpfte. Der abnehmende Mond stand hoch im Westen, für eine Weile würde er noch genügend Licht spenden, so dass sie die bekannten Pfade erkennen konnte. Ihr Weg führte sie zum Waldrand und dann zu der häufig besuchten Lichtung, auf der sich der Matronenstein befand.
Es war eine lange Zwiesprache, die sie mit den drei
Göttinnen führte, und schließlich zog sie den Dolch aus der Scheide und grub mit ihm ein kleines, aber tiefes Loch am Fuße des Weihesteins. Dort hinein ließ sie den Siegelring gleiten. Sie füllte das Loch wieder mit Erde und legte sorgsam das kleine Stück Grassode wieder darüber. Niemand, weder Mensch noch Tier, sollte diese Opfergabe je ausgraben.
Noch einmal bat sie die Matronen, ihr Geschenk gnädig anzunehmen und erbat ihren Segen für den Weg in ihr neues Leben.
Es war still in den Wäldern. Nicht einmal ein Windhauch ließ die Blätter flüstern. Sogar das Käuzchen schwieg.
Annik hätte gerne einen Priester oder eine Seherin befragt, ob dieses Schweigen eine Bedeutung hatte. So konnte sie nur ehrerbietig den Kopf vor dem Altarstein neigen und machte sich auf den Weg zurück.
Es war kurz nachdem sie aus dem Wald getreten war und über die Weiden geblickt hatte, die vor dem Gut lagen, als sie den Schatten bemerkte, der vor ihr über die Wiesen lief. Ein wehender Mantel, eine Kapuze, tief ins Gesicht gezogen, mehr konnte sie nicht erkennen, aber sie hatte das Gefühl, dass es sich um eine weibliche Gestalt handelte. Sie nahm Kurs auf das nördliche Törchen und verschwand dadurch hinter der Mauer.
Ärgerlich murrte Annik, denn wer immer vor ihr hinaus- und jetzt vor ihr hineingeschlüpft war, hatte vermutlich das Pförtchen verriegelt. Nun musste sie durch das Haupttor und dem Pförtner Rede und Antwort stehen. Dazu hatte sie eigentlich wenig Lust. Aber es war die einzige Möglichkeit, und sie wendete sich in die entsprechende Richtung. Sie gab dem Mann am Tor an, dass sie für Erwan im Wald ein Totenopfer gebracht habe, und der Germane zuckte mit den Schultern. Die Gebräuche
der Gallier waren zwar nicht die seinen, aber Achtung vor den Toten hatte er auch, und Annik, die Töpferin, hatte sich besonders verantwortlich für den alten Saufaus gezeigt. Ihre Sache.
Als sie innerhalb der Mauern war, packte sie doch die Neugier. Sie suchte nicht sofort ihr Haus auf, sondern ging noch einmal zur nördlichen Pforte. Sie war jetzt in der Tat verriegelt, und in der zuvor dunklen Glasschleifer-Werkstatt brannte nun Licht. Nachdenklich fragte sie sich, was Rosina Ulpia in dieser Nacht in den Wäldern unternommen hatte. Wahrscheinlich war es ein letztes Treffen mit Martius gewesen, aber es war sehr unvorsichtig von ihr. Annik hoffte, dass sie wenigstens das Stilett bei sich gehabt hatte, das sie an diesem Nachmittag Ursa gegeben hatte.
Am folgenden Tag versammelten sich die Bewohner des Gutes, um Erwan zu begraben. Er hatte keine Familie mehr, und so fand sich für ihn ein Platz auf dem Grund des Besitzes. Valerius Corvus hatte angeboten, die Zeremonie zu leiten, aber es war ein blasser, unglücklich aussehender Cullen, der den alten Ofensetzer nach den Riten der
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