Der Silberbaron
noch sagte er kein Wort. Das war auch nicht nötig: Flammender Zorn und der Wunsch nach Rache standen ihm deutlich ins Gesicht geschrieben, als er entschlossen auf sie zu schritt. Emma schluckte, drehte sich um und floh.
Mit hochgerafften Röcken spurtete sie in den Wald hinein. Dornen zerkratzten ihre nackten Beine, doch sie rannte weiter, immer wieder Ästen und Zweigen ausweichend, die sich in ihrem glänzenden Haar verfingen, bis es ihr unordentlich auf die Schultern fiel. Das Blut rauschte in ihren Ohren, und ihr Atem ging so keuchend, dass sie nichts anderes wahrnahm. Jeden Moment rechnete sie damit, an der Schulter zurückgerissen oder zu Boden geworfen zu werden. Verzweifelt fragte sie sich, ob er sie verfolgte, doch es hätte zu viel kostbare Zeit gekostet, wenn sie sich umgedreht hätte.
Schließlich bekam sie so heftig Seitenstechen, dass sie es nicht mehr ertragen konnte. Sie stürzte auf eine große Eiche zu, taumelte fast gegen die raue Borke, und versteckte sich dahinter.
Mit stechenden Lungen wartete sie ab, bis sie wieder Luft bekam. Sie löste ihre Pelerine und warf sie zu Boden. Dann presste sie sich an den Baum und spähte daran vorbei.
Er war nirgends zu sehen, und bis auf die leisen Geräusche des Waldes war alles still: hier ein Rascheln, da ein leises Krächzen. Sie schloss die Augen. Vielleicht war er froh, sein Pferd zurückzuhaben und sie endlich los zu sein. Sie konnte es ihm nicht verdenken: Bestimmt verfluchte er den Tag, als sie ihm begegnete und seine ganze geordnete Existenz auf den Kopf stellte.
Da stiegen ihr plötzlich Tränen in die Augen. Sie wollte nicht, dass er sie hasste, er sollte überhaupt nicht schlecht von ihr denken … Aber sie hätte es verdient. Sie hatte ihn angelogen, seine Großzügigkeit missbraucht, ihn wiederholt geschlagen, sein Pferd gestohlen, ihm weder Dankbarkeit noch Respekt gezeigt … während er sich so fürsorglich um sie gekümmert hatte. Sie verdankte ihm so viel. Und doch gebot ihr eine innere Stimme, ihm wieder zu entfliehen, statt stehen zu bleiben und alles zu erklären.
Die Minuten verstrichen, und als sich ihr Herzschlag und ihre Atmung endlich beruhigt hatten, zwang sie sich zu praktischen Erwägungen. Sie musste sofort nach London zu ihren Eltern reisen. Wo waren die Häuser, an denen sie vor kurzer Zeit vorbeigeritten war? Vielleicht konnte sie dort Hilfe bekommen. Mit einem Seufzer stieß sie sich von der Eiche ab und trat dahinter vor.
“Warum ein Pferd stehlen, wenn man so schnell rennen kann?”, fragte es sarkastisch von links.
Emma wirbelte herum, trat zurück und machte sich bereit … doch eine Hand streckte sich ihr entgegen. “Tu’s nicht, Emma”, warnte er sanft. “Wenn du wieder davonläufst oder mich irgendwie anders provozierst, dann … komm her”, fügte er hinzu, ohne die Drohung zu beenden, und winkte ihr herrisch zu.
Emma fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, blinzelte und suchte nach einem Fluchtweg. “Ich habe Star nicht gestohlen, ich hab ihn nur ausgeliehen. Ich wollte Ihnen eine Nachricht zukommen lassen, wo Sie ihn finden können, wirklich.”
“Shah …”
“Was?”
“Er heißt Shah.”
“Mir gefällt Star besser”, erklärte Emma trotzig.
Richard lächelte und trat einen Schritt auf sie zu. Als sie das nicht aufstörte, tat er noch einen Schritt. “Für eine schwangere Frau nimmst du gewaltige gesundheitliche Risiken auf dich. So herumzuspringen …”
“Ich bin gesund … kerngesund. Meine Mutter sagt, ich sei sehr robust.”
“Deine Mutter sagt sehr viel, dem ich nicht zustimmen kann.”
“Nun, das alles geht Sie schließlich gar nichts …” Emma brach ab, als die silbergrauen Augen gefährlich aufblitzten. “Ich bin nicht zerbrechlich”, murmelte sie.
“Dein Liebhaber ist bestimmt nicht einverstanden mit deinem wilden Herumgetobe. Erzähl mir noch mal von ihm. Ich glaube fast, ich kenne ihn doch.”
Emma warf ihm einen verächtlichen Blick zu. “Ich sage Ihnen doch, Sie kennen ihn nicht.”
“Er ist verlobt?”
Ein kurzes Nicken und eine gelangweilte Grimasse war alles, was er zur Antwort bekam.
“Mit wem?”
“Mit einer Dame, die Sie bestimmt nicht kennen.”
“Sie ist nicht zufällig die Tochter eines gewissen Mr. Bennet, der noch vier andere ledige Töchter hat und dazu eine Gattin, die nichts anderes im Kopf hat, als ihre Töchter vornehm unter die Haube zu bringen?”
Emma fuhr auf und starrte ihn aus glühenden Augen an.
“Wirklich wie im Roman,
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