Der silberne Falke - Fox, K: Der silberne Falke: Historischer Roman
einer Beere vergiftet und wäre beinahe gestorben. Dann hatte er sich mit dem Messer verletzt und furchtbar geblutet. Ein anderes Mal hatte er Fieber bekommen, und schließlich wäre er beinahe einem Trupp Söldner in die Arme gelaufen. Im letzten Augenblick hatte Enid ihn in Sicherheit bringen können.
Ihre Angst, ihn zu verlieren und allein zurückzubleiben, war groß. Allein im Wald, ohne ihren Bruder, würde sie sicher verrückt werden. Sie verstand ja, dass David den Wunsch hatte, anderen Menschen zu begegnen, schließlich ging es ihr nicht anders, doch Nanas Worte klangen noch immer in ihr nach. »G ebt acht, dass euch niemand findet « , hatte sie ihnen immer wieder eingeschärft.
Der Wald war Enid vertraut, die Tiere, die Pflanzen, alles kannte sie genau. Die Menschen aber waren ihr ein Rätsel. Genau wie David es an diesem Nachmittag getan hatte, beobachtete auch sie manchmal heimlich die Reisenden, die durch den Wald kamen. Die meisten von ihnen blieben aus Angst, sich zu verirren, auf dem Weg. Sie erzählten sich grausige Geschichten von Kobolden und Feen, die angeblich in diesem Wald lebten und ihr Unwesen trieben, doch Enid wusste, dass es all diese Wesen nicht gab. Der Wald war groß und wirkte undurchdringlich und dunkel, aber nur auf den, der sich nicht auskannte. Enid wusste genau, wo sich kleine Lichtungen befanden, auf denen Blumen wuchsen, wo man Nüsse und Beeren finden konnte und was der Wald sonst noch an Annehmlichkeiten zu bieten hatte. Enid stellte Fallen auf, um kleine Tiere zu fangen, aus deren Fellen sie warme Kleidung für den Winter fertigen konnte und deren Fleisch sie bei Kräften hielt, wenn es kalt wurde und der Wald keine Früchte mehr hervorbrachte.
Enid strich David über den verfilzten Schopf. »L ass uns zurück zur Hütte gehen. «
Ihr Bruder sah sie aus Kinderaugen an und nickte.
A p r i l 1186
N ach einem ungewöhnlich früh einsetzenden, besonders milden Frühjahr, das unzählige herrlich duftende Blüten in Gelb, Weiß und Rosa hervorgebracht hatte, spross nach dem letzten heftigen Regen nun überall herrlich saftiges Grün. Einige Vögel bauten noch an ihren Nestern, andere legten bereits die ersten Eier ab.
In der Falknerei bereitete man sich auf das Abtragen der Wanderfalken auf Reiher vor, als William eines Tages voller Entrüstung zu Logan ins Haus gestürzt kam.
»S tellt Euch vor, Meister, Odon will Grace nicht mehr! Er sagt, er sei zu alt für solch einen Kinderfalken. Er will einen Wanderfalken haben. « William schnaubte laut, um seiner Empörung Luft zu machen.
Logan zog die Augenbrauen zusammen. »U nangenehmer Bengel « , murmelte er, »h at keine Ahnung von der Beize, aber spielt sich auf. « Dann sagte er lauter: »N un, wenn der Neffe der Burgherrin einen Wanderfalken wünscht, dann wird er wohl einen bekommen. Allerdings muss uns entweder die Burgherrin oder ihr Gemahl dazu auffordern. Bestell ihm das. «
William nickte zufrieden. Odons Wunsch allein reichte also nicht aus. Grace war ein herrlicher Falke. Auch wenn Merline klein waren, so war die Beizjagd mit ihnen doch wunderbar. Odon hatte wirklich keine Ahnung! Mit trotzig vorgerecktem Kinn ging William zu ihm zurück und richtete die Worte des Falkenmeisters aus.
Odon hatte in den vergangenen Monaten keine Gelegenheit ausgelassen, sich an ihm zu rächen. Er hatte versucht, ihn bei Logan schlechtzumachen, eigene Fehler auf ihn zu schieben, und William zweimal hinterrücks überfallen. Trotzdem war es ihm nicht wirklich gelungen, ihm Angst einzujagen.
»M eine Tante wird verdammt wütend sein, dass Logan meinen Befehlen nicht gehorchen will! « , schimpfte Odon empört und machte sich auf den Weg zurück zur Burg.
Du bist nur selbst wütend, weil er nicht nach deiner Pfeife tanzt, dachte William voller Genugtuung und machte sich wieder an die Arbeit.
Dass es gerade einmal zwei Tage dauerte, bis der Befehl der Burgherrin kam, man möge baldigst einen Wanderfalken für ihren Neffen aussuchen, ärgerte William nicht halb so sehr wie die Tatsache, dass Odon das Merlinweibchen wortlos in die Falknerei zurückgeschickt hatte. Andererseits war er jedoch überglücklich, Grace wieder bei sich zu haben.
»M eine Güte, wie schlecht er sie getragen hat « , sagte Logan, als er Grace auf der hohen Reck stehen sah. »S ie lässt die Flügel hängen, und Schwanz und Rücken bilden keine Linie. Sieh nur, wie gespreizt sie die Schwanzfedern hält! Und dann ihre Augen! Erbärmlich, dieser stumpfe
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