Der silberne Falke - Fox, K: Der silberne Falke: Historischer Roman
von ihr abgelassen und richtete seine Kleidung.
In Enids Ohren rauschte es. Wellenlinien und kleine Punkte trübten ihren Blick. Ungläubig betrachtete sie die Narbe auf der Braue des Hageren, dessen Gesicht nun dicht vor ihrem war. Sie leuchtete blutrot vor Wut und ließ seine fahle Haut noch grauer erscheinen.
Mit zitternden Händen nahm er sein Jagdmesser und zerschnitt den losen Strick, der statt eines Gürtels zweimal um ihren Leib geschlungen war. Er teilte ihn in zwei Hälften und fesselte sie damit an den Baum.
Enid sang noch immer, es war wie ein Zwang. Sie hielt sich an den vertrauten Worten des Wiegenliedes fest und hoffte inständig, David möge sich ruhig verhalten, damit er nicht wieder geschlagen wurde.
Bevis eilte seinem hageren Kumpan begierig zu Hilfe. »W arum stopfst du ihr nicht das Maul? Ich kann dieses Gesinge nicht mehr hören! « , schrie er und hielt sich die Ohren zu. » Sie macht mich toll! «
Enid zuckte unter den Schlägen der Männer zusammen, doch den Gesang gab sie nicht auf. Auf geheimnisvolle Weise verlieh er ihr Kraft; er war ihre einzige Waffe in diesem ungleichen Kampf.
Das Kind begann, heftig zu strampeln. Es braucht Trost, dachte Enid, genau wie David und ich. Darum darf ich nicht aufhören zu singen!
»W ir haben unseren Spaß gehabt, jetzt lasst sie schon gehen! « , forderte der Blonde sichtlich nervös. Ihm schien nicht zu behagen, was die beiden da mit ihr taten.
Der Hagere funkelte ihn an, als witterte er die Gelegenheit, der neue Anführer ihrer kleinen Truppe zu werden. »S olltest du etwa ein zu weiches Herz haben? « , fragte er herausfordernd und strich mit dem Mittelfinger über die Narbe auf seiner Braue. »S ie fordert uns heraus und macht sich mit ihrem Lied über uns lustig! «
Enid sah den Blonden flehend an. Trotz der Brutalität, mit der er eben erst David geschlagen und getreten hatte, sah sein Gesicht unschuldig und rosig aus. Wie frisch geschrubbt, dachte sie und versuchte, das Rauschen in ihren Ohren zu ignorieren.
Die blauen Augen des Blonden waren leicht zusammengekniffen.
Enid glaubte, Zweifel in seinem Blick zu sehen, vielleicht sogar Mitleid, und eine leise Hoffnung stieg in ihr auf. Er war der Einzige, der ihr helfen konnte! Sie hielt einen Augenblick mit ihrem Gesang inne. Ein Wort, nur ein Wort von ihm würde genügen, damit die anderen von ihr abließen.
Doch der Blonde zögerte, wich ihrem Blick aus und wandte sich ab. »A ch, macht doch mit ihr, was ihr wollt! « , brummte er über die Schulter und gab David noch einen Tritt in den Unterleib, bevor er sich hinunterbeugte und begann, mit dem Hemd des Jungen seine Stiefel zu putzen.
»B itte, Herr im Himmel, sei mir gnädig « , flüsterte Enid. Der Strick schnitt schmerzhaft in ihre Haut ein.
»E ine wie du kann mit dem Beistand des Herrn nicht rechnen. « Der Hagere lachte boshaft, nahm sein Messer und schlitzte ihr Kleid der Länge nach auf. Er näherte sich ihrem Gesicht und leckte darüber.
Enid warf den Kopf angewidert zur Seite und hob in ihrer Angst erneut inbrünstig zu singen an.
»I ch werde ihr ein für alle Mal das Maul stopfen! « , hörte sie noch, dann durchfuhr sie ein grauenvoller Schmerz. Er nahm ihr den Atem, erstaunte und entsetzte sie und ließ das Lied verstummen. Das Kind!, dachte sie voller Panik, dann wurde es schwarz um sie herum.
***
William schreckte hoch und sah sich um. Er hatte zu Enid zurückgehen wollen, musste aber vor Müdigkeit eingeschlafen sein. Die Morgendämmerung war schon weit fortgeschritten. Nicht mehr lange, und es war helllichter Tag. Es sah nach einem klaren Sommerhimmel mit kleinen Schäfchenwolken aus. William erhob sich. Es war die richtige Entscheidung, zu Enid zurückzukehren!
Mit dem Fuß schob er Erde über die Asche, damit der Wind keine Glutreste davontragen und einen Brand entfachen konnte. Er würde lernen, diesen Wald ebenso zu lieben wie Enid, und sich bemühen, mit den Habichten die Sehnsucht nach den Falken für immer aus seinem Herzen zu vertreiben. Schließlich war er bald für eine Familie verantwortlich. Er schwor sich, Enid niemals auch nur den leisesten Vorwurf zu machen. Es war seine Entscheidung, und er würde sie nicht bereuen.
Entschlossen machte William sich auf den Weg. Mit einem Mal hatte er es eilig, zu Enid zu kommen. Er rannte über eine große Wiese und blieb schlagartig stehen, als ihm die roten Blüten auffielen, von denen sie übersät war. Klatschmohn! Ein Lächeln huschte über sein Gesicht,
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