Der Skandal (German Edition)
Reise in die Vergangenheit. Und unwillkürlich kam der Schmerz, als sie daran gedacht hat, wie alles endete.
Sie verdrängt ihre Gefühle und beschließt, lieber darüber nachzudenken, warum es von Sandra Kondracki keine Patientenakte gibt. Doch auch da kommt sie nicht weiter.
Die letzte halbe Stunde dehnt sich endlos. Der Verkehr auf der Interstate macht sie nervös und gereizt, dazu noch die Baustellen, die eine lächerliche Geschwindigkeit von dreißig oder vierzig Meilen vorschreiben.
Alles geht nicht schnell genug. Auch Aaron, den sie vorhin angerufen hat, ist immer noch nicht bei Sandra Kondracki gewesen, worum sie ihn gebeten hat. Er muss in einem Prostituiertenmord einen Zeugen verhören.
Erst als sie endlich in Jays Zimmer steht und er sie ansieht und Mom sagt, hat sie alles andere vergessen. Sie will sich zusammenreißen, um nicht in Tränen auszubrechen, aber sie schafft es nicht. Sie hält ihn fest, drückt ihn an sich und weint. Und ihre Mutter weint mit.
Sie hat die ganze Nacht an seinem Bett gesessen, und plötzlich hat er Mom gesagt, sagt sie jetzt schon zum dritten Mal.
Die Ärzte haben schon angefangen, zu untersuchen, ob er Gedächtnislücken hat, sie sind recht zufrieden. Er weiß seinen Namen, er hat seine Großmutter erkannt, und er hat ihnen erzählt, dass er mit seinem Onkel ferngesehen hat. Er erinnert sich sogar noch an die Sendung. Dann bricht seine Erinnerung ab.
»Wir wissen nicht, wann er die Erinnerung an diesen schrecklichen Moment wieder zulässt. Sie sollten ihn jedenfalls noch nicht damit konfrontieren«, erklärt Dr. Joffe und fügt hinzu, dass noch immer Komplikationen wegen der Lungenverletzung auftauchen können.
»Bleiben Sie bei ihm«, sagt er und streichelt Jay über den Kopf.
Christina legt Jay wieder hin, dann erzählt sie ihm die Geschichte, die er, als er noch kleiner war, so sehr mochte. Die von dem Bären und der Ameise. Sie ist keine gute Erzählerin, aber sie kriegt die Geschichte doch irgendwie zusammen. Da fragt Jay plötzlich, als hätte er gar nicht zugehört: »Wo ist Tim?«
Vor dieser Frage hat sie sich gefürchtet. Sie wollte sich eine Antwort zurechtlegen, aber jetzt weiß sie doch nicht, wie sie es erklären soll.
»Er ist nicht mehr bei uns«, sagt sie schließlich.
Jay sieht sie fragend an, er versteht sie nicht, natürlich nicht.
Wie, verflucht, soll sie es ihm erklären? »Tim ist jetzt woanders. Er ist … im Himmel.« Himmel und Hölle, Gott und Teufel – daran glaubt sie nicht, aber irgendetwas muss man seinem Kind doch erzählen, wenn es solche Fragen stellt.
Jay sagt nichts. Sie hat das Gefühl, dass er das längst gewusst hat.
»Tim hat mit dir ferngesehen, ja?«, fängt sie an.
Jay starrt an die Decke.
»Christina!«, mahnt ihre Mutter. »Dr. Joffe hat doch gesagt, du sollst ihn nicht …«
»Ja, Mom! Aber vielleicht will Jay ja was sagen!«
Sie überlegt, ob sie es wagen kann, weiterzufragen. Schließlich nimmt sie seine Hand. »Jay, mein Schatz … du hast mit Tim ferngesehen. Und er hat Pizza bestellt?«
Jay runzelt die Stirn. »Weiß nicht mehr.«
Unwillkürlich wirft sie ihrer Mutter einen hilfesuchenden Blick zu.
»Ihr habt zusammen auf der Couch gesessen«, fährt Christina fort. »Und dann? Was ist dann passiert?« Sie will nicht ungeduldig werden, aber sie hört an ihrer eigenen Stimme, dass sie ihn drängt.
Jay antwortet nicht. Er sieht sie nur an, als würde er sich fragen, warum sie das alles wissen will.
»Schätzchen«, fängt Christinas Mutter an, sie setzt sich auf die andere Seite des Bettes. »Jetzt erzähl mir doch mal, ob Tim auch über den Film gelacht hat.«
»Nein!«, sagt Jay sofort. »Er hat nicht gelacht!«
»Warum nicht? Fand er den Film nicht lustig?«
»Weiß nicht.«
»Er braucht noch Zeit, Christina«, sagt sie leise. Ihre Mutter hat recht, sie darf ihn nicht so drängen, er ist gerade eben erst aufgewacht. Aber Geduld war noch nie ihre Stärke. Die ihrer Mutter allerdings auch nicht, doch wenn es um Jay geht, ist ihre Mutter ganz anders. Christina beobachtet, wie sie mühsamer als sonst aufsteht.
»Ich geh dann mal, Christina.«
»Ja, sicher, ruh dich aus, Mom.«
»Ach, ich hab schon ab und zu mein Nickerchen gemacht. In meinem Alter braucht man nicht mehr so viel Schlaf.«
Sie beugt sich über ihren Enkel, gibt ihm einen Kuss und geht hinaus. Leise schließt Christina die Tür hinter ihr. Sie will sich gerade wieder zu Jay ans Bett setzen, als es klopft und der Wachmann ins Zimmer
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