Der Sohn der Halblinge: Roman (German Edition)
traf. Normalerweise aber konnte man sie trotz ihrer Größe kaum sehen. Wie Schatten schwirrten sie zwischen den Bäumen umher und waren dabei so schnell, dass sie selbst kleineren Vögeln gewachsen waren. Doch normalerweise waren sie keine Jäger, sondern Aasfresser.
Arvan bemerkte nur hin und wieder einen Schatten im Geäst. Baumfliegen flogen tiefer, darum schwirrte der Großteil des Schwarms wahrscheinlich unterhalb der großen Hauptastgabel des Herdenbaums.
» Wahrscheinlich hat ein Katzenbaum einen Schwarzschweinfrischling gerissen, und diese surrenden Plagegeister wollen jetzt ihren Teil abbekommen«, vermutete Neldo.
Arvan schüttelte mit gerunzelter Stirn den Kopf. » Dann wären es nicht so viele. Da muss mehr geschehen sein.«
» Und woran denkst du?«
» Keine Ahnung.«
» Wir können ja mal nachsehen.«
» Du kannst nachsehen. Ich muss hierbleiben und auf die Baumschafe achten.«
» Und außerdem willst du nicht stürzen, stimmt’s?«
» Ja, mach dich nur lustig«, murmelte Arvan verdrossen, dann lauschte er angestrengt. Er hatte nicht das Gehör eines Elben, nicht einmal die großen Ohren eines Halblings, und doch wusste er die Geräusche des Waldes besser zu deuten als jemand wie Neldo, der den Großteil des Tages in einer Schnitzerwerkstatt verbrachte. Es waren nicht nur die Veränderungen in der Geräuschkulisse, die Arvan auffielen, sondern auch die Reaktionen der Pflanzen, ihre Empfindungen. Letzteres hätte er einem anderen gegenüber niemals geäußert, um das zu beschreiben, was er bei den Pflanzen spürte, aber letztlich traf es genau das, was er wahrnahm.
» Wenn ich bis zum Abend nicht zurückkehren sollte«, sagte Neldo, » dann…«
» …folge ich dir, um zu sehen, ob du Hilfe brauchst«, versprach Arvan.
» Das tust du auf keinen Fall! Du gehst zurück zu Gomlos Baum und sagst deinem Ziehvater Bescheid!«
Neldo kletterte in Windeseile von Baum zu Baum und schwang sich an den Rankpflanzen weiter, wenn das Geäst zu dünn wurde oder nicht weit genug an den Nachbarbaum heranragte. Ein Halbling konnte sich auf diese Weise ziemlich schnell fortbewegen, zumindest in den Wäldern am Langen See.
Nach einer Weile sah Neldo einen Trampelpfad im Unterholz. Solche Trampelpfade waren in den Wäldern am Langen See nichts Ungewöhnliches, seitdem sie zu Harabans Reich gehörten und immer häufiger von Truppenverbänden des Waldkönigs durchquert wurden.
Das sind die Spuren von Kriegselefanten!, erkannte Neldo.
Der Trampelpfad zog sich von Südosten her durch den Wald. Dort lag Gaa am Fjord, die Hauptstadt der Provinz Gaanien. Söldnerverbände, die in den Wäldern am Langen See unterwegs waren, kamen zumeist von dort, denn in Gaa befand sich eine der größten Garnisonen von Harabans Reich. Jüngst war dort sogar eine eigene Schule für Kriegselefanten eröffnet worden, wovon auch die Halblinge aus dem Stamm von Brado dem Flüchter profitiert hatten, denn der Statthalter von Gaanien hatte die riesigen Satteldecken von ihren Stickerinnen mit seinem persönlichen Wappen versehen lassen.
Das Summen der Baumfliegen drang noch immer an Neldos Ohren. Er schluckte, denn er ahnte bereits, was das zu bedeuten hatte. Die Neugier siegte allerdings über das mulmige Gefühl, das er empfand, und er setzte seinen Weg fort. Von Baum zu Baum ging es weiter.
Dann verharrte er und blickte hinab.
Selbst aus der Höhe war das Gewürm nicht zu übersehen, das überall aus dem dunklen Waldboden kroch, denn die raupenartigen Kreaturen waren so lang wie Menschenarme. Hinzu kamen vielbeinige Riesenasseln, die ihre behaglichen Plätze im glitschigen Stinkmoos verließen, wo es auch noch Monate nach einem Wolkenbruch so feucht war, als hätte es gerade erst geregnet. Auch Käferkolonnen und katzengroße Aasschnecken krabbelten und krochen zwischen den Wurzeln der Bäume hervor.
Das Geschmeiß bewegte sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit, doch all die widerlichen Kreaturen hatten anscheinend dasselbe Ziel und folgten dem Trampelpfad der Kriegselefanten.
Neldo erreichte schließlich einen großen Baum, der noch zwei Generationen zuvor als Wohnbaum gedient hatte. Dann hatte man ihn aufgeben müssen, denn der Blitz war hineingefahren und hatte ihn in der Mitte gespalten. Das war die Strafe der Waldgötter dafür gewesen, dass er so enorm hoch gewachsen war, um sich über die anderen Bäume zu erheben. Jedenfalls waren nicht wenige der Halblinge davon überzeugt. Dies war ein verfluchter Ort des Unheils,
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